akLogo  ak - analyse & kritik, Zeitung für linke Debatte und Praxis, Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 394 / 19.09.1996

Daß der Mensch dem Menschen ein Freund ist

Erinnerung an Rio Reiser

Am 20.8.1996 ist Rio Reiser in Fresenhagen/Nordfriesland gestorben. Er war von 1970 bis 1985 Sänger und Kopf von Ton Steine Scherben, der wichtigsten deutschen Politrockgruppe. Zwar wird die Erinnerung an ihn immer mit der frühen Schaffensperiode der "Scherben" verbunden sein. Rio Reiser gerecht zu werden heißt jedoch, auch die vielfältigen anderen Aktivitäten seines 46jährigen Lebens zu würdigen. Die Linke hat eine ihrer bedeutendsten künstlerischen Persönlichkeiten verloren. Denn Rio stand, obwohl in kein Schema passend und manchmal unbequem, bis zu seinem Tod immer an der Seite derjenigen, die sich für eine gerechtere Welt einsetzen.

Zu meiner ersten Begegnung mit Rio Reiser kam es irgendwann Ende der 70er Jahre. Eine der ersten Demonstrationen, an denen ich teilnahm, führte mich nach Bonn. Als sich die Veranstaltung gegen Abend auflöste, stieß ich in der Altstadt auf ein Straßenfest, zu dem sich andere DemoteilnehmerInnen spontan eingefunden hatten. Aus dem Fenster einer Wohnung erklang laute Musik, die ich nie zuvor gehört hatte: hart, kämpferisch, eingängig. Sie gefiel mir auf Anhieb und ich nervte einen der Umstehenden immer wieder mit der Frage: "Und wer ist das?" Die Namen, die ich mir merkte, lauteten Cochise, BAP (damals eine nur im Kölner Raum bekannte Newcomerband) und Ton Steine Scherben. Die Lieder hatten Titel wie "Jetzt oder nie, Anarchie", "Verdampt lang her", "Die letzte Schlacht gewinnen wir", "Keine Macht für niemand" und "Rauch-Haus-Song".

Vor allem die Musik der "Scherben", damals immerhin auch schon acht oder neun Jahre alt, traf genau mein Lebensgefühl, benannte in klarer Sprache die Themen, die auch mich bewegten: Generationskonflikte im Elternhaus, Wut auf die Klassenjustiz, internationale Solidarität, Straßenschlachten mit den Bullen usw. Fremd blieben mir damals - zwischen Schule und Zivildienst und vor der Berufsausbildung - die Lieder, die sich mit dem Trott und der Ausbeutung innerhalb der Arbeitswelt beschäftigten.

"Wir müssen hier raus, das ist die Hölle

Wir leben im Zuchthaus

Wir sind geboren, um frei zu sein

Wir sind zwei von Millionen, wir sind nicht allein

Und was kann uns hindern

Kein Geld, keine Waffen

Wenn wir es wollen

Wir werden es schaffen"

Wir müssen hier raus ("Keine Macht für Niemand")

Die unverwechselbare Stimme, die diese Lieder sang, gehörte Rio Reiser. Sein bürgerlicher Name war Ralph Möbius, geboren am 9. Januar 1950 in Berlin. Der Vater arbeitete als Verpackungsingenieur und wechselte oft den Arbeitsplatz. Die Familie, zu der neben der Mutter die beiden älteren Brüder Peter und Gerd gehörten, zog daher häufig um. Stationen waren Traunreut/Bayern, Brühl, Stuttgart-Schmiden, Nürnberg, Niederroden im Rodgau/Hessen. Die Schule hat Rio selten Spaß gemacht, die Zensuren waren eher schlecht. Im Schulchor des Nürnberger Melanchthon-Gymnasiums lernte er das Singen und und verlor die Angst, vor Publikum aufzutreten. Als zwölfjähriger erhielt er Klavierunterricht.

Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre begannen Rios Brüder, sich politisch zu engagieren. Rio wurde auf Politik aufmerksam. 1963 begeisterten ihn die Beatles, später die Rolling Stones. In dieser Zeit fing er an, Gitarre zu spielen. Als seine Brüder 1964 begannen, mit ihrem Wandertheater über das Nürnberger Umland zu ziehen, war Rio der Komponist der Truppe. 1965 brach er die Schule ab und begann eine Fotografenlehre in Offenbach-Bieber. Nebenbei arbeitete er im Theater seiner Brüder mit und bekam den Künstlernamen Rio de Galaxis. Im selben Jahr sang er in Frankfurt in seiner ersten Band, den Surfriders. 1966 wechselte er zu den Beatkings, bei denen er Ralph "Lanrue" kennenlernte. Mit ihm begann eine 30jährige Freundschaft, die mit der Gruppe Ton Steine Scherben ihren musikalischen Höhepunkt fand. 1966 brach Rio die Fotografenlehre ab, da er Berufsmusiker werden wollte.

Ankunft in Berlin

1967 folgte Rio seinen Brüdern an das Berliner Forum-Theater. Sie planten die erste Beat-Oper der Welt ("Robinson 2000") und brauchten ihren Bruder als Komponisten. Zur gleichen Zeit gingen in Berlin die StudentInnen auf die Straße. Doch zur APO hatte Rio ein gespaltenes Verhältnis: "Mit den Studenten hatte ich Probleme. Was und wie die redeten, fand ich dröge. Die Flugblätter, die Sprache, das war mir alles böhmisch." Auch später, in der Ton Steine Scherben-Phase, fühlte Rio sich bei Auftritten in Diskotheken, Jugendheimen, Turn- und Stadthallen wohler als im studentischen Milieu.

1968 gründete Rio zusammen mit seinen Brüdern "Hoffmanns Comic Teater". In diesem Jahr begann auch sein Drogenkonsum. Haschisch, später LSD und Meskalin wurden zu ständigen Begleitern. 1969 zog das "Teater" nach Kreuzberg und benannte sich 1970 in "Rote Steine" um. Auf dem Spielplan stand jetzt Agitprop-Theater für Jugendliche und Auszubildende. Sie wurden mit Erfolg animiert, ihre eigenen Erfahrungen auf der Bühne nachzuspielen. In dieser Phase schrieb Rio neben dem Stück "Macht kaputt, was euch kaputt macht" weitere Songs, die später auf der ersten Scherben-LP zu hören waren. Die Emotionen des Publikums, die auf der Bühne und beim Straßentheater freigesetzt wurden, beeindruckten Rio nachhaltig. Diese Erfahrung war konstituierend für das Projekt Ton Steine Scherben.

Dem Abschied vom Agitprop-Theater ging die Erkenntnis voraus: "Ich wollte nicht länger als ,Vehikel` für politische Programme dienen, deren Wahrhaftigkeit ich nicht überschauen konnte. Ich wollte die Welt selbst interpretieren und mit meinen musikalischen Mitteln verändern." In Anlehnung an Karl Philipp Moritz Roman "Anton Reiser" (1796) nahm er den Künstlernamen Reiser an. Seine Band, die Ton Steine Scherben, sollte eine der ersten Politgruppen werden, die Rock-Musik mit deutschen Texten verknüpfte.

Geburt einer Legende

1970 wurde die erste Single mit den Stücken "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und "Wir streiken" aufgenommen. Innerhalb kurzer Zeit waren 6.000 Exemplare verkauft oder verschenkt. Der erste Auftritt der Band fand am 3.9.1970 auf dem "Festival der Liebe" (Hauptsponsor Beate Uhse) auf Fehmarn statt. 1971 wurde erstmals nach einem Scherben Konzert ein leerstehendes Fabrikgebäude am Kreuzberger Mariannenplatz besetzt und in ein Jugendzentrum verwandelt. In der Folge wurden Ton Steine Scherben die Hausbesetzerband. Immer wieder dienten ihre Konzerte als Initialzündungen, beispielsweise im Dezember 1971 für das ebenfalls am Mariannenplatz gelegene Bethanien-Krankenhaus (später "Georg von Rauch-Haus").

1973 geriet die Band in ihre erste tiefe Krise. Der Mythos, der sie inzwischen umgab, wurde zunehmend als Last empfunden: "Doch bei der Band machte sich unausgesprochen das Gefühl breit, daß wir nichts mehr zu sagen hätten. Wir kamen uns vor wie eine Musikbox. Die lebende Legende der ,Scherben`, einer Band, die im kleinsten Ort noch die Revolution anzettelte. Das machte uns kaputt." Geldsorgen kamen hinzu. Für eine linke Band, die ihre Schallplatten im Eigenvertrieb vermarktete und die häufig auf politischen oder Solidaritätsveranstaltungen auftrat, war wenig Geld zu verdienen. Ein Auftritt brachte der Gruppe durchschnittlich 500 Mark. Die Frustration war schließlich zu groß: Im Frühjahr 1973 löste die Band sich erstmals auf.

1974 vereinigte sich die Band erneut und begann mit den Vorbereitungen für die dritte LP ("Wenn die Nacht am tiefsten ..."). Das Unbehagen, daß sich in den beiden Vorjahren angesammelt hatte, manifestierte sich in einer völligen Kehrtwendung der Textaussagen. Zwar fanden sich noch zwei Lieder, die den Frust des Arbeitsalltags, bzw. den Traum des Ausbruchs beschrieben, doch vorbei war es mit kämpferischer Agitation und mit klarer Freund-Feind-Benennung. Statt dessen fanden sich Titel, die Sehnsucht nach Wärme und Liebe sowie die Hoffnung auf eine andere, bessere Zukunft ausdrückten.

In vielen Texten spiegelte sich das Innenleben des Sängers Rio Reiser wieder. Die Scherben waren nicht mehr Organ einer kämpferischen, radikalen Linken, sondern sie reflektierten zunehmend die Sicht Reisers auf diese Gesellschaft, seine Verzweiflung an den Zuständen und seine Sehnsucht nach individuellem Glück. Damit entsprachen sie einer neuen Strömung innerhalb der Linken, die das Private politisch machte.

"Ich komm aus der Wüste aus Stahl und aus Glas

Ich komm aus der Wüste aus Angst und aus Haß

Wo die Menschen verdursten auf der Suche nach Liebe

Krank vor Verzweiflung und vom Warten müde

Ich komm aus dem Land der vergifteten Straßen

Wo man den Tag verkaufen muß, um sorglos zu schlafen

Wo die Liebe verkauft wird und der Haß verschenkt

Wo die Mörder belohnt werden und die Heiligen gehenkt.

Hilf mir

Zeig mir den Weg hier raus."

Durch die Wüste ("Wenn die Nacht ...")

Da sich auch die "Show" der Band immer weniger das Prädikat "politisch korrekt" verdiente, verscherzten sich die Scherben die Sympathien bei einem Teil ihres Publikums. Auf einer Tournee im Jahre 1976 zeigte sich die Enttäuschung vieler ZuhörerInnen in offener Ablehnung. Weil die Scherben nicht mehr dem Mythos harter, politisch korrekter Straßenkämpfer entsprechen wollten, sahen sie sich dem in der Szene schnell geäußerten Verratsvorwurf ausgesetzt. Solche Anfeindungen und der Wunsch, dem permanenten Trubel in ihrem Kreuzberger Wohnprojekt zu entfliehen, führten bereits 1975 zu dem Entschluß, sich einen Bauernhof im nordfriesischen Fresenhagen zu kaufen. Er wurde zum Rückzugsrevier der Band und für Rio Lebensmittelpunkt bis zu seinem Tod.

Zwischen 1976 und 1985 entstanden nur noch zwei weitere LPs. Erst 1981 wurde erneut eine Tournee mit 44 Auftritten in Angriff genommen. In Berlin landeten Stinkbomben auf der Bühne. Ton Steine Scherben mußten die bittere Erfahrung machen, daß sich weder von den Tourneen (zu niedrige Eintrittspreise) noch von den Verkaufserlösen der Plattenverkäufe (die letzten drei LPs erreichten wohl nicht mehr die Auflage der beiden "frühen Meisterwerke") leben ließ. Die Schulden wuchsen auf ca. 500.000 Mark. 1985 löste die Band sich endgültig auf.

Über die frühen Lieder von Ton Steine Scherben sagte Rio einmal: "Die meisten Texte halte ich für gelungen, für die Forderung nach Verwirklichung des Traums, daß der Mensch dem Menschen ein Freund ist. Das war der Versuch, den Soundtrack dazu zu machen, für die Bewegung, die dafür kämpft." Daß die Sehnsucht nach Liebe, die in vielen späteren Liedern sichtbar wurde, eine Sehnsucht nach schwuler Liebe war, behielt Rio Reiser lange Zeit für sich. Alle Texte waren so komponiert, daß sie auch von Heterosexuellen auf sich bezogen werden konnten. "Schwulsein war bei den Linken nicht en Vogue", sagte Rio einmal. 1976, auf einem Konzert in Hamburg, bekannte er sich erstmals öffentlich zu seiner Homosexualität. Es sollte noch bis zur fünften LP ("Scherben", 1983) dauern, bis Reiser dieses Thema auch in seine Songs aufnahm.

Rio Reiser solo

Die musikalische Solokarriere, die Rio Reiser 1986 bei dem Musikriesen Sony startete, machte ihn bundesweit bekannt. Mit Hits wie "Wenn ich König von Deutschland wär", "Alles Lüge" oder "Bye-Bye Junimond" verbesserte sich, so kann man nur hoffen, seine finanzielle Lage. Er komponierte Opern, Rockmusicals, Kinderlieder, Filmmusiken und Lieder für andere Interpreten. Nebenher schrieb er Bücher, trat als Schauspieler in Filmen und auf Bühnen auf und war Gastdozent beim Studiengang Popularmusik an der Hamburger Hochschule für Musik und Theater.

Auch als "Star" blieb Rio ein politisch denkender und handelnder Mensch. Am 11.11.1990 trat er in die PDS ein, "weil sie das einbringt, was an der DDR wichtig und gut war." Im Vereinigungstrubel wollte er etwas machen, das Signalwirkung haben würde: "Es wurde ja damals das Ende der Utopie, des Traums nach Gerechtigkeit verkündet. Nach dem Motto: Ihr seht ja, das ist nicht zu verwirklichen. Aber nur weil das, was da in der DDR war, zusammengebrochen ist, ist doch nicht die ganze Utopie gestorben."

Als sich 1992 der von der Bundesregierung geschürte Ausländerhaß gegenüber MigrantInnen entlud, trat Rio auf mehreren großen Protestveranstaltungen auf. Im Oktober 1992 stritt er sich in der Sat1-Sendung "Einspruch" mit Musikern der Neonaziband Störkraft. Wenn er nach Einflüssen gefragt wurde, nannte er Karl May und die Bibel, in der er regelmäßig las. Seine Gesundheit war schon seit längerem angeschlagen. Auftritte und Tourneen (1992/1996) mußten abgesagt bzw. abgebrochen werden. Rio wußte nicht, an welcher Krankheit er litt. Vielleicht hat der langjährige Drogenkonsum den Körper geschwächt. Als Todesursache wurden innere Blutungen angegeben.

Rio Reiser war sehr sensibel und unterlag häufigen Stimmungsschwankungen. Angesprochen darauf, daß seine Songs oft depressiv klingen, sagte er einmal: "Ich müßte lügen, wenn ich sagen würde, daß ich keine Depressionen hätte. Nicht permanent, aber ich komme eben nicht drumrum. Ich bin im Moment eher wacklig." Doch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft verließ ihn trotz mancher Enttäuschung nie ganz. In einem taz-Interview von März 1995 antwortete Reiser auf die Frage, ob die Revolution noch komme: "Vielleicht nicht so, wie wir es uns vor 20 Jahren vorgestellt haben, aber in irgendeiner Form muß sie ja kommen. Uns bleibt ja gar nichts anderes übrig. Sonst geht der ganze Planet flöten, und das Schlimme ist, daß wir das noch erleben werden. ... Die Chancen stehen nicht besonders gut, aber es gibt noch eine winzige Hoffnung, zumindest das Allerschlimmste zu verhindern."

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Platten:

Ton Steine Scherben:

"Macht kaputt, was Euch kaputt macht/Wir streiken", 1970, Single.

"Warum geht es mir so dreckig?", 1971.

"Keine Macht für Niemand", 1972.

"Wenn die Nacht am tiefsten ...", 1975.

"Tonsteinescherben IV", 1981.

"Rock in Deutschland", dies ist eine Art "Best of ..." der vorher erschienen LPs. Sie enthält das bisher nur auf Single erhältliche "Wir streiken".

"Scherben", 1983.

"TSS in Berlin- live", 1984.

"TSS in Berlin - live Teil II.", 1996.

TSS & Brühwarm:

"Entartet"

"Mannstoll"

Rio Reiser solo:

"Dr. Sommer", 1984, Single.

"Rio I.", 1986.

"Blinder Passagier", 1987.

"Rio", 1990.

"Durch die Wand", 1991.

"Über alles", 1993.

"Das Beste", 1994, hier wieder eine "Best of ...".

"Himmel und Hölle", 1995.

Bücher:

"In Winnetous Garagen".

"Unter Sternen".

"Der König von Deutschland", 1994, Autobiographie.


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