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ak - analyse & kritik 445 (21.12.2000)

Popmusik im ersten Jahr des neuen Jahrhunderts

Von Trendsettern und alternden Stars

Ist Pop Verblendung und Bejahung des Vorgegebenen? Verhindert Pop die "Bildung autonomer, selbstständiger, bewusst urteilender und sich entscheidender Individuen", wie es Adorno in seinem Resümee über Kulturindustrie Mitte der vierziger Jahre formuliert hat. Oder bietet Popmusik die Möglichkeit, das Vorgegebene zu verneinen, hedonistische Vorstellungen zu artikulieren und so Wünsche und Bedürfnisse auszusprechen, die sprachlich nicht formuliert werden können. So viel ist sicher: Die Auseinandersetzung über diese Grundsatzfragen wird weitergehen, auch nach dem Rückblick unseres Autoren auf das Popjahr 2.000.

Pop ist längst zu einer Art Verständigungsformel geworden, bei der regionale Unterschiede in globale Stile aufgelöst werden. Die Beziehung von Pop als Resultat einer sozialen Bewegung und der gestaltende Einfluss der Popkultur auf soziale Bewegungen war seit seinen Anfängen immer wieder eine wechselseitige. Doch was anhand der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts noch einfach zu belegen ist, ist am Anfang dieses neuen Jahrhunderts schon wesentlich schwieriger nachzuweisen. Vor allem da es - zumindest in der Bundesrepublik Deutschland - an fortschrittlichen sozialen Bewegungen mangelt, die über eine Verbindung zu Sub- oder Popkultur verfügen. Seit mindestens zehn Jahren spielt im Bereich der populären Subkultur in Deutschland eher die rassistische Bewegung eine dominante Rolle. Die rebellischen Künstlerinnen und Künstler, die sich einer emanzipativen Zukunft verschrieben hatten, sind heute Mainstream oder verschwunden. Wer einen Blick auf die Programmliste des Deutschlandkonzerts von MTV gegen rechte Gewalt in Leipzig wirft, findet sich in einem Register der angesagten Hip-Hop Hamburger-Schule und Post Rock Combos wieder. Es sind die Böhsen Onkelz, die es ohne Unterstützung der großen Medien bis auf Platz eins der Verkaufscharts schaffen. (1)

Eine grauslige Vorstellung, da ich es für durchaus gerechtfertigt halte, Popmusik als einen Indikator für den Zustand von sozialen Bewegungen, als Gradmesser für deren Stillstand, Innovation oder Bewegungsrichtung zu nutzen. Nachrangig ist bei dieser Betrachtung, von wo die Einflüsse ausgehen und wie die Vielschichtigkeit der Beziehungen zwischen Pop, sozialen Bewegungen und Politik hergestellt werden.

War Popmusik in ihren Anfängen, in den Sechzigern und Siebzigern des zwanzigsten Jahrhunderts, Ausdruck rebellierender Jugendlicher, so feiern heute die gealterten Stars dieser beiden Jahrzehnte in allen Jugendscenen ihr Comeback. Sei es, dass Santana mit "Supernatural" die Charts erobert, oder Metallica bei VH1 als beste Bühnenshow und Bon Jovis "Its my life" zum besten Video gewählt wurden.

Am eindruckvollsten haben in diesem Jahr The Walkabouts diesem Verschwinden des Generationskonflikts Ausdruck verliehen: "The Train leaves at eight", lässt drei Generationen von europäischen Musikern im 21. Jahrhundert ankommen. Die Band, die zu Hochzeiten des Grunge als einzige Band in Seattle galt, die Keyboards verwendete, hat mit Madonna selbstverständlich wenig gemeinsam. Während die Pop Diva die aktuellen Techniken der Musikproduktion zu einer klassischen "Madonnaproduktion" benutzt, verarbeiten die Walkabouts Lieder von Theodorakis bis Distelmeyer zu moderner Westcoast Folkmusic. (Zu ergänzen ist, das garantiert alle, die sie besitzen, ihre Don McLean Platte hervorkramen wenn sie Madonnas "American Pie" hören)

Madonna gehört zu den Veteraninnen auf dem Gebiet der Popmusik. Achtzehn Jahre liegen zwischen der ersten Single "Everybody" und der jüngsten Auskopplung aus "Music". Dennoch ist sie es, die es auch im Jahre 2000 schafft, auf allen Titelseiten der Musikillustrierten zu landen. Das bedeutet auch, im Countrylook stilprägend ins Modegeschäft einzugreifen und dennoch für sich in Anspruch zu nehmen, den sozialen Aspekt von Pop Musik zu benennen. Ihre Position zur eingangs formulierten These der Verwischung von Widersprüchen fasst sie in zwei Zeilen: Music make the people come together; music make the bourgeoisie and the rebel. Obwohl Pop durch seine Oberflächlichkeit charakterisiert ist, sind es gerade die linken Kritiker und Kritikerinnen, die das come together auch an die zweite Zeile der Refrains anhängen und so das bekommen, was sie hören wollen.

Kennzeichen der Popmusik 2001: Belanglosigkeit?

Dabei macht vor allem das Video zu "Music" deutlich, wie verkommen der Hedonismus, der einmal das Befreiende an Pop Musik war, zu reinem Partystress verkommen ist. Anders als viele andere Plattenveröffentlichungen im letzten Jahr nimmt Madonna zwar viele Techniken aktueller Strömungen der Popmusik auf, leitet daraus aber nicht ein postmodernes Sammelsurium ab, sondern legt ein glattes, schon fast klassisches Popalbum vor. Belanglos und doch von aller Welt beachtet. Alle Welt, dass ist in diesem Fall auch die Spex, die einmal "Underground und versuchte Poptheorie" (TAZ) war. Das ist die WOZ, die in der Produktion gar eine "Rückbesinnung auf soziale Funktionen der Musik" erkennen kann, oder die niederländische Grenzenlos, die - indem auch sie das Zusammenkommen des Rebellen und des Bourgeoisie bei Madonna entdeckt - ihr wenigstens Offenheit zu Gute hält. Dabei ist es gerade die Belanglosigkeit, die dieses Album für das Jahr 2000 so charakteristisch macht.

Zu den herausragendsten Ereignissen für die Popmusik dieses Jahres werden von vielen die Übernahme von Napster durch Bertelsmann und die Copy kills music Kampagne gezählt (die Übernahme der Spex durch den Münchener Verlag Piranha interessierte nur eine kleine Gemeinde). Tonbänder und später Kassetten ermöglichten das Kopieren schon vor Jahrzehnten und es wurde mitgeschnitten und kopiert, was das Zeug hielt. Doch fand diese Form der Musikaneignung nie die Beachtung wie heute das Internet. Dass Placebo ihr Album "black market music" nannte, verweist darauf, dass sie wissen, wie wichtig Napster und ähnliche Tauschprogramme sind, dass sie dazu gehören wollen, dass Verbotenes einen Reiz an sich hat. Das Neue an ihrem Album ist die Mischung von Rock mit Rap, ist die Politisierung ihrer Texte. Herausgekommen ist sicherlich eines der besten Gitarren-Rockalben dieses Jahres - ohne wirklich neue Impulse zu geben. Wenn es auf der LP beim Stück "Spite & Malice" immer wieder heißt: "Dope, guns, fucking in the streets, revolution", so geht es weniger um Ausblicke, als vielmehr um die Geschichte ausgebliebener Revolten. Es ist ein Verdienst von Placebo, dies zu benennen. Sie dokumentieren so die Hoffnungslosigkeit und Belanglosigkeit, die die Popwelt zur Zeit durchzieht. Neben Placebo ist es vor allem Radiohead, die in diesem Jahr eine Art Reifeprüfung abgelegt haben. Mit "Kid A" wollten sie deutlich machen, dass sie den kommerziellen Erfolg nicht auf Biegen und Brechen suchen. Fast ungewöhnlich, aber sie kamen tatsächlich ohne Singleauskopplung, ohne Video und ohne Tour durch die USA aus. Auch als Tanzmusik ist diese Scheibe wenig geeignet.

Anders als Placebo, die ohne das böse Wort auszusprechen im Titel auf Napster Bezug nehmen, war die Musik von Radiohead bereits einen Monat vor der offiziellen Veröffentlichung bei Napster zum kostenlosen herunterladen vorhanden. Radiohead Bassist Colin Charles kommentierte die Tatsache, dass drei Tage nach einem Konzert in Barcelona, das ganze Konzert bei Napster als Download vorhanden war: "Das gab der Band neues Leben... Als wir dann in Tel Aviv spielten, kannten die Fans jedes einzelne Lied." Der Bezug auf eine Technik des Konsums ist sicherlich nichts neues im Popgeschäft, unzählige Lieder über das Radio zeugen davon. Aber die Selbstreduzierung des rebellierenden Aspektes der Popmusik auf eine Erwerbstechnik, die der Tauschlogik des Marktes oberflächlich betrachtet widerspricht, macht die Perspektivlosigkeit dieser Musik deutlich.

Während für Radiohead und Placebo die Verarbeitung verschiedener Stile eine Weiterentwicklung bedeuten, haben die Thievery Corporation eine CD produziert, die die Vermischung der Stile zum eigenen Stil macht (auch das ist allerdings keine Neuigkeit). Was bei anderen Gruppen als Orientierungslosigkeit interpretiert werden kann, ist auf "the mirror conspiracy" Programm. Hier wird postmoderne Musikproduktion nicht zum Notnagel, sondern ist Vorgabe. Dabei wird weniger aus Rock und Techno zitiert, sondern sie bedienen sich verstärkt aus Jazz, Bossa Nova und Dub. Es ist also nicht die "weiße Musik", die sie verarbeiten, sondern deren roots. Dies ermöglicht, im Zusammenhang mit der Rückbesinnung auf urbane Strukturen der Musikaneignung, wie sie Asian Dub Foundation präsentiert, wieder die subkulturellen Elemente aufzunehmen, die die Popmusik einmal ihr eigen nannte.

Eine schwierige Aufgabe in einer Zeit, in der 70.000 Menschen bei Rock am Ring zu Freundeskreis und "Leg Dein Ohr auf die Schiene der Geschichte" abrocken, auf das Gegen-Rechte-Gewalt Konzert von MTV laufen und gleichzeitig Eminem CDs ohne Ende kaufen. Eine Scheibe, in der es vor Sexismus und Homophobie nur so strotzt und die trotzdem (oder deswegen?) von der Spex-Redaktion zur Platte des Monats gekürt wurde. Dabei soll nicht der Eindruck vermittelt werden, dass es sich bei "mirror conspiracy" um den Wegweiser zu neuen Ufern handelt. Dafür fehlt ihr die street credibility. Aber die Platte gibt Hinweise, wo etwas Neues beginnen könnte, und betont die Notwendigkeit des Neuen. Dies hat sie wiederum mit Radiohead und Placebo gemeinsam. Alle drei Produktionen sind postmodern in dem Sinne, dass sie Pluralität als kreative Vernunft eindimensionaler Wahrheitsbehauptung entgegensetzen.

Postmoderne Popmusik

Schlimm steht es dagegen um die aktuelle Popmusik, wenn das angeblich wirklich Neue in diesem Jahr betrachtet wird. 2Step bedient sich eines Potpourris von Best-of-Zutaten einiger Musikstile des letzten Jahrhunderts. Die rhythmische Vielfalt und Verschrobenheit des Drum'n'Bass, die Tanzbarkeit von Vocal House und vor allem die Chartstauglichkeit des R'n'B sind die prägendsten Stilmerkmale von 2Step. Diese Stilrichtung hat jedoch nichts mehr mit den Ursprüngen der einzelnen Stile gemeinsam. Es ist, als wenn wir Wasserstoff und Sauerstoff zu Wasser verbinden. Die Explosivität des Wasserstoffs und die Feuerförderung des Sauerstoffs gehen unter im alles löschenden Charakter des Wassers. Zu deutlich ist die Hand der Musikindustrie bei der Genese dieser Musik. Aber vor allem markiert diese Musik die Domestizierung von Drum'n'Bass. Rythm&Blues (R'n'B) hat sich dagegen selbst zu einer Musikrichtung entwickelt, die die Grenze zwischen R'n'B und Soul verschwinden lässt. Dies machen die beiden stilsichersten Produktionen, Erykah Badus "Mamas gun" und Sades "Lovers rock", deutlich. Nicht, dass 2step auf der Popbühne erschien, ist das schmerzliche, sondern dass dieser Musikstil die Aura der konkurrenzlosen Weiterentwicklung im Pop erlangen konnte.

Wie weit die Orientierungslosigkeit geht, die als postmodernes "alles ist möglich" verkauft wird, machen z.B. Boomfunk MCs in einem MTV-Interview deutlich: Ihre nächste Produktion soll auch durch Country & Western geprägt sein. Wobei wir wieder beim Einfluss von Madonna wären. Da kommt sie im Cowboylook daher und schon wollen finnische HipHoper Countryelemente einbauen und die Crossover Band Apollo four forty trägt Cowboyhüte in ihrem Video. Dass von diesem Boom auch ein Johnny Cash mit seiner neuen Platte "American III: Solitary man" profitiert verwundert nicht. Er war es immerhin, der das Kunststück fertig brachte, an einem Tag auf einer Protestkundgebung gegen den Vietnamkrieg aufzutreten und am nächsten auf einer Wahlkampfveranstaltung von Richard Nixon. Was man damals Schizophrenie nannte, könnte heute durchaus als gelebte Postmoderne akzeptiert werden. Damit geht es dann allerdings nicht mehr um Pluralität in Sachen Vernunft, sondern um belanglose Beliebigkeit.

Tommy Schröter

1) Seit "The kids are not all right" von Dietrich Diedrichsen 1992 ist dieses Thema häufig behandelt worden, die Themenstellung dieses Beitrags bedeutet nicht, dass diese Entwicklung übersehen wird.



Discografie:

Madonna; Music; Wea

Placebo; black market music;

Radiohead; Kid A; EMI

The walkabouts; The train leaves at eight; Glitterhouse

Thievery Corporation; The mirror of Conspiracy; 4ad