KAI DEGENHARDT
BRIEFE AUS DER EBENE
Hinweise zu den Songs
DORA 2 heißt der Opener der Platte. So wie eine Station im Hamburger Gefängnis „Santa Fu", und ähnlich wie Johnny Cash in seinem berühmten „San Quentin" - möglicherweise davon inspiriert - stelle ich mir in dem Lied die Situation eines dort inhaftierten Strafegefangenen vor. Der erzählt - über den swingenden Rhyhtmus und den Sound einer kleinen (Knast-)Rockband - seine Geschichte.

Der TAG IM MAI ist dagegen eher ein klassischer „European Folksong" im langsamen 3/4-Takt. Zu einer lyrischen Gitarren- und Violinenbegleitung wird von einer zurückliegenden episode d'amour erzählt; in Landschaftsbildem aus dem Moor, das ich gut kenne.

Das DESERTIEREN ist in Zeiten von „low intensity warfare", in denen die (zivilgesellschaftlichen) Einberufungsbescheide in anderer, symbolischer Form ergehen, keine rein auf das Militär bezogene Angelegenheit. Das Lied enthält mit den Skizzen meiner „Tingeltangel-Tour von der Provence in die Bretagne" eine Referenz an Vians berühmten „Deserteur". Von daher die Straßen-Combo-Besetzung mit Gitarre, Akustik-Bass, Cajon und kofferverstärkter Pedal-Steel-Gitarre.

In SOUTHERN COMFORT (EUER EIGENTUM), einem durchinstrumentierten Roots-Reggae, stehen die Kolonialisierten der Dritten Welt den Touristen und Geschäftsleuten aus den reichen Ländern gegenüber und stellen sie: die gute alte Eigentumsfrage. Die Frage nach dem Rechtsinstitut ^freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung also, das deshalb so relevant ist, weil es für neun Zehntel der Welt nicht existiert.

AUS DER EBENE heißt im Original „Sur le chemin de la vie". Es stellt, gesungen von Gerard Lenorman im Jahre 1974, eine starke musikalische Kindheitserinnerung für mich dar; ein wenig vielleicht das, was für Proust sein Madeleine in Lindenblütentee war. Das Resultat, meine Bearbeitung des Liedes, ist - zugegeben - weniger schwergewichtig als seine „Suche nach der verlorenen Zeit".

BEVOR WIR VERTEILEN ... wird der Kuchen gestürzt" lautet der Refrain dieses - ich sage mal - Protestsongs zur E-Gitarre-solo. Beim Schreiben des Texts, im August 2001, sah ich sie geradezu vor mir sitzen, die G7-Aliens auf ihren Kreuzschilfen im Hafen von Genua, während Polizei und Armee die Demonstranten durch die Straßen knüppelten. Auch wenn es nach dem 11. September des selben Jahres ruhiger darum geworden ist: Es wird sie weiter und wieder geben, die Proteste. Auf dass der Song meinen Teil zum Soundtrack dazu beitrage.

DAS GROSSE SPIEL ist - jawoll! - ein Stück zum 11. September. Allerdings kommen weder Flugzeuge noch Hochhäuser und auch keine Feuerwehrmänner darin vor. Dafür der große Mann in feinem Tuch, die Tattoo-Frau mit Tupperware, Käpt'n Ahab und der weiße Wal (keine Pferde). Der verfremdete Blick erfaßt hier m.E. ein genaueres Bild von der Wirklichkeit als vermeintlich detailgetreue Geschehens- oder gar Innnerlichkeits-Beschreibungen, an denen sich andere versucht haben. Das Stück steht im 5/4-Takt, der im Zusammenspiel von 2 akustischen Gitarren, Bass, Percussion und Melodica durchaus polymetrisch aufgefaßt und durchgeführt wird.

Der CLAQÜEUR - ein sogenanntens Rollenlied - ist das Bewerbungs-Solo eines arbeitslosen Promoters, der einem fiktiven künftigen Upstarter seine Dienste anbietet. Die Musik ist Cajun, gespielt von Gitarre, Schlagzeug, Bass, Fiddle und Pedal-Steel.

to LETTER TO LENIN erzähle ich die kurze und bittere Geschichte einer jungen Deregulierungs-Verliererin der Nachwende-Zeit. Zum besseren Textverständnis sei erwähnt, dass Lenin in seiner Schrift „Staat und Revolution" die Deutsche Post als „Muster sozialistischer Wirtschaft" beschrieb, welche perspektivisch jedem das Recht zusichere, „eine beliebige Menge Trüffeln, Autos, Klaviere u. dgl. m. zu erhalten."

AY CARMELA, ein spanisches Traditionel, ist vor allem bekannt in seiner Version aus dem Bürgerkrieg von 1936-39 als Lied der 15. Brigade. Mein deutscher Text ist als Hommage an alle Verteidiger der damaligen spanischen Republik zu verstehen, stellt aber auch den Zusammenhang zum hier und heute notwendigen antifaschistischen Kampf her. Die Flamenco-Gitarre spiele ich zu programmierten Beats und einem geloopten Handy-Störgeräusch.

In GEMEINSAME REISE halte ich einen nicht weiter erklärungsfähigen Monolog über eine lang anhaltende Liebesgeschichte - zu einer, wie ich finde, hübschen Gitarrenmelodie im Fingerpicking-Style.