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Die Elenden: Bacilly

Wenn Jugendliche im tiefsten Ostdeutschland das elende Gefühl haben, sie seien "einfach nicht mehr für den stinknormalen Alltag zu gebrauchen" und sich stattdessen Gitarren kaufen um Rockmusik zu machen, dann kann daraus unter Umständen so etwas entstehen wie "Die Elenden" - feinster Punkrock aus Neufünfland.

Die Band besteht aus Gunnar "Das lange Elend" (Gitarre & Gesang), Gerri (Gitarre), Kinski (Bass), Tim (Drums). Jeder für sich ein Original und irgendwie besonders: 2-m-Mann Gunnar tritt mit Vorliebe im Schottenrock (stilecht mit nix drunter) und Hut mit angeklebten Mega-Dreadlocks auf. Kinski steht daneben mit einer Hose aus Plüchtieren und einer Kopfbedeckung, die ihm ständig die Augen verdeckt. Gerri & Tim sind die optisch unscheinbarsten, werden aber recht wild, wenn sie ihre Instrumente bedienen.

Das offizielle Debütalbum der Berliner Band trägt als Hommage an ihre Frankreich-Tour im letzten Jahr den Titel "Bacilly" (eine Stadt in der Normandie) und erscheint bei "Möbius Rekords". Die Produktion ist der Preis für ihren ersten Platz beim "Rio-Reiser-Songpreis 2001", den Die Elenden mit ihrem Ohrwurm "Monster" gewannen.

Ihr musikalischer Stil wird treffend und doch nicht erschöpfend beschrieben als "Mischung aus Folk, Ska, Reggae und Polka". Die Band selbst nennt es "Rummpelbeat & Hoppsmusik". Ihre deutschen Texte sind "sarkastisch, frivol, witzig" und nie oberflächlich. Sicher tauchen all die ach so unsittlichen Begriffe auf, die mit P, T, A oder F beginnen, dabei wird nur direkt & deutlich angesprochen, warum es geht. Subtile und sensibel verpackte Metaphern würden weder zur Band noch zur Musik passen. Auf "Bacilly" zeigen sie ihr ganzes Programm: Schon der knallige Opener kommt mit der Überlegung, was man nicht alles tut "für ein kleines Stück vom Ruhm" ("Ruhm"). Dann geht es weiter von Marschmusik mit fetten Gitarren und nachdenklichem Text ("Nix bleibt wie es war") über Ohrwürmchen mit hohem Mitgröl-Faktor ("Oberflächlichkeit", "Deine Worte") bis zu Songs mit Country-Elementen ("Es wird nie mehr so geil", "Auf der Reise"). Letztgenannter Titel entzückt mit dem Refrain "Ich bin immer auf der Reise auf wundersame Weise" und interpretiert eben auch neue Tage & Träume als (Gedanken-)Reisen und Fortbewegung. Im ruhig Abschlussstück "Das letzte Sechsachtel" wird's fast besinnlich, denn es geht um "Das Ende meiner Tage".

Persönliches Highlight ist "Strahlende Augen", vielleicht gerade weil diese kraftvolle Ballade so untypisch für die Punkband ist und weil da kein Beat rummpelt, sondern die Hormonausschüttung, und keine Musik hoppst, sondern das Herz. Ganz anders, aber ebenfalls besonders ist "Sweet Jane" - Erzählt wird die Geschichte von Tarzans Jane, die sich "von Liane zu Christiane" schwingt und "von da" in den Aerobic-Club. Köstlich!

Immer wieder herrlich sind Gerris Gesangskünste (Backing-Vocals), in denen er vermutlich fehlende Keyboards o. ä. ersetzen soll und voller Hingabe "babah -bababah" der auch mal "baa baba - babababah" durchaus melodisch ins Mikro röhrt.

"Bacilly" ist kein Album für zu Hause, das muss man in Gesellschaft hören und vor allem laut. Man wird mit einstimmen, ob man will oder nicht, man wird tanzen, ob man kann oder nicht. Und wenn man am Ende mindestens fünf Minuten lang eine Zugabe fordert, wird man diese auch bekommen ...

52 Minuten lang handgemachte Musik & ehrliche Texte - und so gar nicht elend. Wenn tote Hosen Urlaub brauchen, dann braucht der Freund gutes Punkrocks diese Band!

Tipp: Man muss Die Elenden unbedingt live erleben, denn sie bringen ihr Publikum schon mit dem ersten Song zum Tanzen. Sie demonstrieren Spaß an der Musik, der Performance und der freiwerdenden Energie.


Regina Sommerfeld
Kontakt zur Autorin: sommerfeld@germnrock.de

2002 Möbius Rekords 0192-2

Dieser Artikel erschien in den von GERMAN ROCK E. V. (http://www.germanrock.de>( Nr. 17, 1-3 / 2002.