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Irgendwie dagegen

Diffuse Texte sind das Markante an der neuen Tocotronic-CD
What is tocotronic? Die Single This boy is tocotronic legt zumindest den Verdacht nahe, dass die drei Hamburger mit ihrer neuen Platte ein wenig Aufklärung bieten. Das Gegenteil ist aber richtig.

Die Reaktionen auf die neue Tocotronic-CD sind interessant. Ohne Mühe schaffte es die bereits ausgekoppelte Single This boy is tocotronic in die Viva-Rotation zu kommen, und egal ob taz oder intro, alle würdigten die Platte umfänglich und sind voll des Lobes. So viel ist also klar: Die Band ist Kult.
Das herzuleiten ist nicht zwar nicht unbedingt einfach, aber nachvollziehbar. So breiteten die drei Musiker mit einem eher schrammeligen Gitarrensound in einschlägigen Hamburger Szeneclubs einen diffusen, an Punk angelehnten Klangteppich aus, der nicht unbedingt erforderte, dass Bass, Gitarre und Schlagzeug auch wirklich beherrscht wurden. Darum ging es auch gar nicht. Titel wie: Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein oder Über Sex kann man nur auf Englisch singen zeigten eine diffuse oppositionelle Haltung, nicht unbedingt mit klaren Positionen, aber tief verwurzelt im Geist des Hamburger Schanzenviertels rund um die Rote Flora bis rüber zum Hafen zwischen Pudelsclub und Hafenklang. Ein Hauch von Rebellion, Underdog und Dagegensein. Zudem ist Tocotronic eingebettet in dem als Hamburger Schule betitelten Bandnetzwerk zwischen Blumfeld, den Sternen und all den anderen, die den deutschsprachigen Pop-Rock in den 90er Jahren von unten mit aufgebaut haben. Auch wenn jede Menge Mystik mitschwingt - irgendwo hier ist der Ursprung des Tocotronic-Kults zu suchen.
Und wenn eine Band diesen Status erstmal erreicht hat, dann darf sie ziemlich viel machen: Zum Beispiel Texte schreiben, die kein Mensch versteht. Künstlerisch betrachtet ist das nicht unbedingt zu kritisieren. Man kann das ganze sicherlich so interpretieren wie Thomas Winkler in der taz. Er meint, dass die Band einfach den bislang erzeugten Erwartungen nicht entsprechen wollte und daher in diese Diffusität abdrehte. Positiv formuliert: Die Texte sind "verschlüsselt wie nie".
In der intro schafft es Thomas Venker, die Platte unter der Schlagzeile "Soundtrack zur Rebellion" vorzustellen und leitet aus jedem noch so kleinen Hinweis eine Aufforderung zum Handeln, gegen Globalisierung, die Selbstgefälligkeit der eigenen Szene oder was auch immer ab. Zumindest einmal bekommt er eine Steilvorlage für seine Interpretationsreise, nämlich wenn es im Waschzettel zur CD heißt: "In Dringlichkeit besteht immer bilden der flächige, kristallin-überbeleuchtete Sound und die quetschig gepresste, klaustrophob Negri/Hardt herbeizitierende Gesangzeile ('Hier ist das Imperium') eine widersprüchliche Gemengelage."
Und Venker kann sich glücklich schätzen, wenn er von Dirk von Lowtzow eingestanden bekommt: "Das ist ein extrem flashiges Buch - egal wie man das jetzt liest. Da haben wir sofort gedacht: Das ist so zeitgemäß, das müssen wir für uns benutzen. Die haben eine unglaubliche Begriffschöpfungsleistung erbracht. Das ist ein Buch, das die Masse, die das Kleinteilige nicht verfolgen kann, updated."
Alles klar? Statt in allem Rebellion zu sehen, ist wohl eher Sasha Ziehn zuzustimmen, der in der selben Intro-Ausgabe schreibt: "Das alles bleibt doch eher Andeutung, unbestimmbares Gefühl, in das ein jeder reindenken mag, was er will."
Wenn man so will, folgt Tocotronic damit dem Kurs, den die Sterne schon seit Jahren fahren: Getextet wird auf eher abstrakte Weise und die Bilder, Geschichten und Bedeutungen entstehen vor allem im Kopf der HörerInnen.
Aber dennoch drängt sich auch die Frage auf, was denn an der neuen Platte und den Texten "rebellisch" (intro) oder "Verweigerung" (taz) sein soll? Man mag das aus dem Engagement der Band ableiten, aus dem Stadtteil, in dem sie lebt, aus den Benefizkonzerten, die sie spielt, aus dem Sound, der - inzwischen deutlich aufpoliert und aufwendig produziert - immer noch einen satten Einschlag von (Pop-)Punk (und also Verweigerung) beinhaltet. Aber an den Texten der neuen CD lässt sich das einfach nicht festmachen.
What is tocotronic? lautete die Eingangsfrage. Die Antwort: Keine Ahnung, aber es ist schöne Musik, mit der man textlich auf die Reise gehen kann. Auf Individualreise.
DSe, rock-links.de

Tocotronic, Tocotronic, Rough Trad (ZOMBA).