20 Jahre 'Afrodeutsch'
Ein Exkurs über Sprache, Hiphop und Verantwortung
von Hannes Loh
Quelle: Intro.de [19.02.03]

Vor 20 Jahren schrieb die afroamerikanische Dichterin und Theoretikerin Audre Lorde zusammen mit Adrienne Rich das Buch "Macht und Sinnlichkeit", inzwischen ein Klassiker der feministischen Literatur. Das Buch erschien 1983 im Orlanda Frauenverlag in Berlin, und ein Jahr später wurde Lorde als Gastdozentin für ein Semester an die dortige Freie Universität gebeten. Audre Lorde nahm das Angebot an. Weil sie keine Vorstellung davon hatte, ob in Deutschland schwarze Menschen lebten und wenn, unter welchen Umständen und mit welchem Selbstbewusstsein, ging sie während ihres Aufenthalts in Berlin auf die Suche. Bald lernte sie einige Afrodeutsche kennen - unter ihnen die Studentinnen May Ayim und Katharina Oguntoye.

Von der Dunkelheit Ans Tageslicht

1984 bat der Orlanda-Verlag sie um ein neues Buch. Doch Lorde lehnte ab; stattdessen überzeugte sie den Verlag davon, dass es wichtiger sei, den Dialog afrodeutscher Frauen und ihre Spurensuche in der deutschen Geschichte zu unterstützen. Tatsächlich gab es bis zu diesem Zeitpunkt weder eine Forschung über noch ein Bewusstsein für afrodeutsche Geschichte. Schwarze Menschen wurden generell als nicht-deutsch wahrgenommen. Für sie standen Begriffe bereit wie "Mischling", "Mulatte" oder "Neger". Lediglich der Bezeichnung "Besatzungskinder" waren historische Koordinaten eingeschrieben, allerdings mit dem klaren Signal, dass man mit diesem geschichtlichen Erbe nichts zu tun haben möchte. Im Deutschland der Fünfzigerjahre überlegte man allen Ernstes, ob es für die Kinder afroamerikanischer Soldaten und deutscher Frauen nicht besser sei, "wenn man sie in das Heimatland ihrer Väter verbrächte."

Der Orlanda-Verlag kam auf May Ayim und Katharina Oguntoye zu mit der Bitte, an einem Buch, wie es Audre Lorde vorgeschlagen hatte, zu arbeiten. "Wir haben uns gefragt, ob wir das überhaupt können und ob wir diese Verantwortung tragen wollen", erinnert sich Katharina Oguntoye. "Wir haben zwei Tage überlegt und dann zugesagt. Mein Gedanke dabei war auch: Wenn ich diese Chance nicht nutze, mich einzumischen, dann brauch' ich auch nicht mehr rumzumeckern, was alles falsch läuft in der Gesellschaft." Nach zwei Jahren Arbeit, nach vielen Interviews, Recherchen, Gesprächen und Diskussionen erschien 1986 das Buch "Farbe bekennen - Afrodeutsche Frauen auf den Spuren ihrer Geschichte".

Mit "Farbe bekennen" setzte nicht nur ein akademischer Diskurs ein über afrodeutsche Geschichte und Identität, es begann auch ein Prozess des Kennenlernens, des Austausches unter schwarzen Deutschen und Schwarzen in Deutschland. Im selben Jahr entstand die ISD (Initiative Schwarzer Deutscher e.V.), ein Netzwerk, das sich über Ortsgruppen in verschiedenen deutschen Großstädten organisierte und auch heute noch regelmäßig Bundestreffen abhält. Den Weg aus der Geschichtslosigkeit und Fremdbestimmung begleitete von Anfang an ein Wort: afrodeutsch.

In Anlehnung an afro-american entstand dieser Begriff im Austausch mit Audre Lorde während der Arbeit zu "Farbe bekennen". "Uns war wichtig, dass es bei diesem Begriff nicht um das Blut geht, sondern dass die Sozialisation das Ausschlaggebende ist", betont Katharina Oguntoye. Die Wirkungsgeschichte des Wortes "afrodeutsch" ist verblüffend. Innerhalb weniger Jahre verdrängte diese Neuwortschöpfung die alten rassistischen Bezeichnungen wie "Neger" oder "Mischling" weitgehend aus dem öffentlichen Sprachgebrauch. "Viele denken dieses Wort zwar auch heute noch mit", sagt Katharina Oguntoye. "Aber immerhin verschwand 'Neger' langsam aus den Medien, und nach und nach las man immer öfter 'afrodeutsch'." Auch in einem anderen Bereich trat "afrodeutsch" eine beispiellose Erfolgsgeschichte an.

Die Oldschool als CNN

"Als ich den Begriff 'afrodeutsch' das erste Mal hörte, hat er mir sofort eingeleuchtet", erinnert sich Adé, Rapper bei B.A.N.T.U. und Mitbegründer von Brothers Keepers. "Wir haben ihn automatisch übernommen, wir haben ihn gehört und gesagt: 'Wow, mit dieser Bezeichnung fühlen wir uns als Schwarze in Deutschland wohler.'" An der jungen HipHop-Szene in Deutschland, die sich Ende der Achtzigerjahre formierte, waren viele Afrodeutsche beteiligt. Der Frankfurter MC D-Flame beschreibt den übergroßen Anteil junger Migranten und Afrodeutscher am "Projekt HipHop" als einem Prozess der natürlichen Identifikation: "Das hab' ich ganz deutlich bei dem Film 'Wild Style' gemerkt. Da war es sofort klar, dass sich die Türken mit den Puertoricanern und die Afrodeutschen mit den Schwarzen identifizieren."

Adé, D-Flame, Torch, Ebony Prince, Linguist und einige andere afrodeutsche Rapper fanden schon in den späten Achtzigerjahren Kontakt zur ISD und trafen sich regelmäßig auf den Bundestreffen. "Dort kam man für drei Tage zusammen, hat gemeinsam Filme geschaut, Seminare abgehalten, Podiumsdiskussionen durchgeführt", erzählt Adé. "Auf solchen Treffen habe ich Leute wie Torch oder Ebony getroffen. Viele der Leute hatte ich zwar schon mal irgendwo auf einer Jam gesehen. Aber in diesem Kontext der ISD-Treffen war man frei von der Rolle des Rappers und konnte wirklich etwas von sich erzählen. Man hat in diesem afrodeutschen Kontext anders miteinander geredet." Mit "Fremd Im Eigenen Land" von Advanced Chemistry und "Afrogerman" von Weep Not Child erreichten die Wörter afrodeutsch/afrogerman neue Zuhörer. "Wenn ich ein Wort wie 'afrodeutsch' bei 'Fremd Im Eigenen Land' verwende, dann hoffe ich, dass das viele Afrodeutsche hören und sich nicht mehr als irgendwas bezeichnen lassen", sagt Linguist 1992 in der Fernsehdokumentation "Lost in Music - HipHop Hooray".

Das vergleichsweise hohe politische Bewusstsein der HipHop-Oldschool in Deutschland, das gezielte Anknüpfen an die Tradition der Black-Power-Bewegung, die Orientierung an Malcolm X und Marcus Garvey und an HipHop-Edutainer wie Chuck D oder KRS One - dazu haben das Buch "Farbe bekennen" und die überfälligen Debatten, die durch diese Publikation ausgelöst wurden, einiges beigetragen.

Daniel X

Eigentlich wollte D-Flame ein Buch schreiben. "Meine Grundidee war der Titel: Eine schwarze deutsche Geschichte", sagt D-Flame. Aber es wurde kein Buch daraus, sondern ein Konzept-Album. Es ist das erste Mal, dass ein deutschsprachiger Rapper seine Familiengeschichte so offen und verletzlich darlegt. Song an Song erzählt D-Flame von der Familie seiner Mutter, von ihrer Flucht nach West-Berlin, davon, wie sie seinen Vater kennen lernt, wie er selbst in Frankfurt groß wird, die Sozialisations-Institutionen durchläuft: Kindergarten, Schule, Heim etc. Sein Rückblick ist selbstbewusst und stolz; ohne sentimental zu werden, spürt er den Wegen des kleinen Daniel nach, stellt Fragen, gibt Antworten, sorgt aber auch für manche Irritation. "Meine Mutter hat mir viel beigebracht", sagt D-Flame, "auch über Deutschland. Sie hat mir gesagt: Hier ist nicht alles schlecht, aber du musst aufpassen, wenn dich Menschen aufgrund deiner Hautfarbe beurteilen wollen."

Sein Album "Daniel X - Eine Schwarze Deutsche Geschichte" ist das Ergebnis dieser empfohlenen Aufmerksamkeit. Knapp 20 Jahre, nachdem die afrodeutsche Spurensuche von schwarzen deutschen Frauen begonnen wurde, zeigen die Projekte junger afrodeutscher Rapper wie D-Flame und Tyron Ricketts (mit seinem Film "Afrodeutsch") oder das unermüdliche Engagement des Brothers Keepers e.V., dass ihre Arbeit Früchte trägt.

Wo sich NPD und Hiphop Gute Nacht sagen

Das ist die eine Seite. Die andere sieht so aus: "In der musikalischen Giftküche eines entwurzelten 'Afro-Deutschtums' vermengen sich Deutschenhass und Brutalitätsphantasien (...). Was zum Lebensgefühl degenerierter US-Ghettojugend gehört, wollen die Brothers Keepers (...) auch im Land der Deutschen etablieren und erhalten dabei alle denkbare mediale Schützenhilfe", so Thoralf Trenkmann in die "Deutsche Stimme", dem Zentralorgan der NPD. So sind sie eben, die dummen Faschos, das wissen wir ja. Nicht die Blut-und-Boden-Blödheit von Neonazis wie Trenkmann ist skandalös, sondern die umfangreiche Diskussion, die sich im Forum des Online-Magazins rap.de zu seinem Artikel entwickelt hat.

Nach einigen Postings, die betonen, dass Nazis eben doof und unlocker seien und ohnehin nichts von HipHop verstünden, schaltet sich ein Forumsmitglied namens Chiefrokkk ein: "Ich kann ehrlich gesagt dem Gelaber eines D-Flame ebenso wenig abgewinnen wie dem dieser rechten Spacken." Wie er auf eine solche Idee komme, will ein Diskussionsteilnehmer wissen. Chiefrokkk: "Z. B. hypte er auf einem seiner Konzerte die Antifa (für mich die linksextreme Variante des nationalen Widerstandes)." Außerdem seien die ganzen Beschwerden über rassistische Erfahrungen, die Rapper wie D-Flame, Afrob oder Samy Deluxe von sich gäben, übertrieben und lächerlich.

Es sind immer noch die gleichen Sprüche. Es ist wie verhext. Vor 18 Jahren lehnte ein Berliner Professor die Diplomarbeit von May Ayim ab, mit der Begründung, in Deutschland gebe es keinen Rassismus: "Vielleicht in den USA, aber nicht hier."

Zurück im Forum. Chiefrokkk erhält inzwischen Schützenhilfe von Wize: "Diese Pseudoinhaltstexte von Samy und Afrob sind eh der letzte Dreck. Die sollen froh sein, dass sie nicht in Amerika sind, wo du überall offenen Rassismus hast, oder in Afrika, wo sie derbe unter den Lebensumständen abkacken würden."

In einem ihrer frühen Gedichte schrieb May Ayim folgende Zeilen: "Sie sind afrodeutsch? ... Ah, ich verstehe: afrikanisch und deutsch. Ist ja 'ne interessante Mischung! (...) Ach, Menschenskind! Dat ganze Elend in der Welt! Sei'n Se froh, dass Se nich im Busch geblieben sind. Da wär'n Se heute nich so weit!"

Chiefrokkk und Wize plappern nach, was sie bei Opa und Papa gehört haben. Und sie tun das mit der Überzeugung, weltoffene, unvoreingenommene HipHop-Fans zu sein. Im Laufe der Debatte schalten sich zwei afrodeutsche HipHops ein, die geduldig zu erklären versuchen, warum sie die Lyrics von Afrob oder D-Flame nicht für übertrieben halten. Es kommt, wie es kommen muss: Irgendwann ist das Wort "Neger" im Spiel. Warum er es benutze, will Momolu Schulz, ein afrodeutsches Forumsmitglied, von Flash Murdock wissen. "Ich schreib 'Neger', weil mir 'Dunkelhäutiger' oder 'Afroamerikaner' zu lang ist", erklärt dieser kurz und bündig. Wenig später ergänzt er: "Außerdem finde ich den Ausdruck 'Neger' nicht wirklich rassistisch." Und um klar zu machen, dass sich die "Neger" in Deutschland bloß nichts auf ihren Status als Minderheit einzubilden brauchen, erklärt der junge Deutsche: "Wenn fünf Türken um mich rum stehen, dann bin ich die Minderheit." Aha. Nach knapp 200 Beiträgen ist die Diskussion zu Ende, ohne dass man sich einig wurde.

Deutschrap Halt's Maul

"Wenn wir mal ehrlich sind, die Neger sind doch eher die, die alles in' Arsch geschoben kriegen hier." Das sagte im November 2002 der afrodeutsche Rapper B-Tight aus Berlin dem Internet-Magazin Bumbanet. Sein aktuelles Release heißt "Der Neger In Mir" und beinhaltet auch ein Interlude, auf dem D-Flame wenig geschmackvoll gedisst wird: Mit verstellter Stimme wird der Frankfurter Rapper persifliert und am Ende erschossen mit den Worten: "Du bist zwar ein Nigger, aber ein Scheißnigger." Auf die Frage, woher diese Abneigung rühre, gibt B-Tight zu Protokoll: "Ich mag ihn einfach nicht, deswegen hab' ich mir gedacht: So'n Scheißneger muss bestraft werden, der darf nicht weiterleben." B-Tights Platten verkaufen sich recht gut. Vor allem über die zahllosen Internet-Mailorder versorgen sich die Deutschrap-Kids mit harten Battleraps aus Berlin.

Auf mzee.com, einem der größten Internet-Mailorder, rangiert "Der Neger In Mir" in der Verkaufs-Top-Ten auf Platz fünf. "Wo wird dieser Mensch enden? Was kann er damit erreichen?" fragt sich Katharina Oguntoye. "Die nachrückenden Generationen sind sich vielleicht nicht im Klaren darüber, dass Worte sehr viel Macht haben. Mir wurde das klar, als wir diese Begriffe geprägt haben, dass es mit 'afrodeutsch' auch um eine Definitionsmacht ging, dass wir nicht mehr fremd bestimmt werden, dass nicht mehr andere bestimmen, was wir sind, sondern dass wir selber unseren Namen wählen können. Wenn du jetzt einfach Leute 'Nigger' oder 'Neger' nennst, dann sind das nicht Bezeichnungen wie 'Rot', 'Blau' oder 'Grün', sondern du artikulierst einen ganzen Rattenschwanz von Vorstellungen, der an diesen Wörtern klebt, und weißt es vielleicht gar nicht."

B-Tight weiß es sicher nicht. Leute wie ihn hat es schon immer gegeben; das ist nicht das Ärgernis. "Viel wichtiger wäre aber die Frage an Journalisten, warum sie so etwas übernehmen und so jemanden unterstützen", meint Katharina Oguntoye. Für rap.de, Deutschlands größtes HipHop-Online-Magazin, schreibt Dirk Laubinger über B-Tights Platte: "Ein Minialbum, das erfrischt, nicht politisch korrekt ist und doch unheimlichen Spaß macht." Was bedeutet es, wenn einer HipHop-Community solche Lyrics Spaß machen? Wenn dagegen ein Album wie "Daniel X" wie Blei in den Regalen steht? Deutschrap ist deutsch geworden - zumindest, was seine Konsumenten betrifft.

In Gästebüchern im Internet diskutiert der Nachwuchs im Thread "HipHop und Politik" über Themen wie "Sozialstaat - ja oder nein?" oder "Die Mär vom Ölkrieg". Deutschrap ist bei Roland Koch angekommen, Deutschrap ist Teil der Neuen Mitte geworden und spiegelt die Ignoranz und Kaltschnäuzigkeit der Mehrheitsgesellschaft wider. HipHop als Weltkultur findet woanders statt.


Autor: Hannes Loh