Quelle: http://home.t-online.de/home/M.S.Salomon/mupo1.htm

Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier.

Vortragsreihe: Musik und Politik

Teil 1:

Die tiefenpolitische Dimension der Musik oder: Warum es sinnvoll ist, über Geschmack zu streiten

Sehr geehrte Damen und Herren,

ich muss gleich zu Beginn meines Vortrages gestehen, dass ich selten so große Schwierigkeiten hatte, meine Überlegungen in Worte zu fassen. Dies liegt nicht daran, dass mir das.Thema fremd wäre. Im Gegenteil: Seit meiner frühsten Kindheit beschäftige ich mich intensiv mit Musik, sowohl als Konsument als auch als Produzent. Dabei spielte die.Thematisierung des Zusammenhangs von Musik und Politik schon sehr früh eine wichtige Rolle. Schon mit knapp zwölf Jahren begründete ich meine heftige Aversion gegen.kommerzielle deutscher Volks- und Schlagermusik damit, dass diese Musik die Massen verblöde und sie zu willfährigen Mitläufern völkischer Politprogramme machen würde. Später.las ich Bücher von Eisler, Dessau, Lunacrskij und Henze, die meine politische Zugangsweise zur Musik untermauerten. Doch je mehr ich mich in dieses Themengebiet vergrub,.desto klarer wurde mir die ungeheure Mehrdeutigkeit der Musik und meine eigene Unfähigkeit, sie in sauber abgrenzbare politische Schubladen zu pressen. War - um ein allseits.bekanntes Beispiel zu geben - Wagners Musik wirklich reaktionär? Konnte man Beethovens Sinfonien tatsächlich als tönenden Freiheitswillen verstehen? Und wenn ja: warum.krönten die Nationalsozialisten ihre totalitären Jubelveranstaltungen ausgerechnet mit einer Aufführung von Beethovens 9. Sinfonie? Und warum - um alles in der Welt - hatte ich, der.ich doch langsam zu einem scharfen Religionskritiker avancierte, ausgerechnet ein Faible für die Sinfonien des Erzkatholiken Anton Bruckner, der seine - vor allem im letzten Satz -.ergreifende Neunte in naiver Gläubigkeit "dem lieben Gott" gewidmet hatte? ..Postmoderne Theoretiker würden aus diesen Widersprüchen ableiten, dass musikalischer Geschmack eben beliebig und von weltanschaulichen Grundeinstellungen unabhängig ist.

Ich halte diese Konsequenz jedoch für falsch. Die postmoderne Vorstellung von der Beliebigkeit des künstlerischen Geschmacks, die Abkopplung der Ästhetik von der Aussage,.übersieht, dass Musik weit mehr ist als ein bloßes Spiel der Klänge. In ihr manifestiert sich ein bestimmtes Verhältnis zur Welt. Insofern ist Musik stets auch politisch, wenn auch auf.eine merkwürdig abstrakte Weise. Sie lässt sich - sofern sie nicht kombiniert mit Sprache und/oder Bild auftritt - nicht auf konkrete politische Ziele festlegen. Musik wirkt nicht.realpolitisch, sondern - so will ich es einmal formulieren - "tiefenpolitisch". Was es damit auf sich hat, werde ich versuchen, im Rahmen meines Vortrags darzulegen.

1. Musik und Politik



Die Geschichte der Musik ist - auch wenn dies lange übersehen wurde - eine politische Geschichte. Herrscher aller Zeiten haben sich der Musik bedient, haben gefällige.Komponisten und Musikstile gefördert, ungefällige zensiert. Gebildete Herrscher beriefen sich dabei gerne auf den alten Platon, der in seinem berühmten Werk "res publica", zu.deutsch: "der Staat", folgenden Dialog niederschrieb:

"Vor Neuerungen der Musik muss man sich in acht nehmen; denn dadurch kommt alles in Gefahr [...] Nirgends wird an den Gesetzen der Musik gerüttelt, ohne dass auch die höchsten Gesetze des Staates ins Wanken geraten. [...] Dort müssen also die Wächter ihr Wachhaus bauen: in die Nähe der Musik. - Ja, Gesetzlosigkeit dringt leicht in die Musik ein, ohne dass man es gewahr wird. - Freilich, sie scheint dort bloß Spiel zu sein und ohne üble Wirkung zu bleiben. - Sie hat ja auch keine andere Wirkung [...] als dass sie sich allmählich festsetzt und heimlich auf den Charakter und die Fähigkeit überträgt, dann weiter und offener um sich greift und das bürgerliche Leben vergiftet, dann mit großer Frechheit die Gesetze und die Verfassung angreift, bis sie schließlich alles zerstört, das ganze Leben des einzelnen sowohl wie der Gesamtheit."

Für Platon und seine Nachfolger hatte Musik eine wichtige Funktion innerhalb des

Gemeinwesens: Sie diente der Etablierung bzw. der Festigung der Sittlichkeit, also erwünschter staatsbürgerlicher Tugenden. Gleichzeitig stellte sie aber auch eine große Gefahr dar, die zu kontrollieren, reglementieren war. Nicht erst die großen Diktaturen des letzten Jahrhunderts betrachteten das musikalische Geschehen daher mit Argusaugen. Die Unterscheidung von artiger und entarteter Kunst erfreute sich bereits einige Jahrhunderte vor dem Nationalsozialismus eifriger Beliebtheit. Man denke nur an die zahlreiche Kirchenkonzile, die festgelegten, auf welche Weise man Gott und die Kirche tönend zu preisen habe.

Zweifellos aber wurde Platons Ratschlag, das Wachhaus der staatlichen Wächter in der Nähe der Musik zu erbauen, niemals so offensichtlich verfolgt wie in den kommunistischen und faschistischen Regimen des 20. Jahrhunderts. Im real existierenden Sozialismus avancierte bekanntlich der sogenannte "sozialistische Realismus" zur unbedingten ästhetischen Doktrin. Komponisten, die sich diesen Maßgaben nicht anpassten, wurden als "Verräter der Revolution", als "bürgerliche Revisionisten" diskreditiert. Als besonders wichtig galt, musikalische Intellektualismen zu vermieden. Stalin wollte - wie jeder Diktator - eine einfache, eingängige, dem vermeintlich "gesunden Volksempfinden" entsprechende Musik.

Während einer Beratung mit Vertretern der sowjetischen Musik im ZK der KPdSU machte der sowjetische Kulturfunktionär Shdanow dies überaus deutlich. "Es genügt nicht", führte er vor einer vor Angst erstarrten Riege von Komponisten aus, "dass Sie alle hoch und heilig versichern, Sie seien für eine Volksmusik. Wenn dem so ist, warum sind dann in ihren musikalischen Werken so wenig Volksmelodien verwendet? [...] Entwickelt sich bei uns etwa die sinfonische Musik in enger Wechselwirkung mir der Volksmusik - dem Lied, der Konzert- und Chormusik? Nein, das kann man nicht sagen. Im Gegenteil, hier klafft zweifellos ein Riss, entstanden durch die Unterschätzung der Volksmusik von seiten der Sinfoniker."

Was Stalin und seinen Funktionären recht war, war Hitler nur billig. Auch im deutschen Reich wurde musikalischer Intellektualismus gerügt und Volksmusik zur Basis des musikalischen Schaffens erkoren. Wahre Musik sei immer im Volkstum verwurzelt, wusste Propagandaminister Goebbels zu berichten. Am deutschen Wesen - auch am musikalischen - sollte die Welt genesen. Hören Sie hierzu einen Auszug aus der Ansprache, die Joseph Goebbels auf den Düsseldorfer Musiktagen 1939 hielt, gefolgt von einem typischen Beispiel nationalsozialistischen Musikschaffens, einem Propagandasong von Peter Kreuder, dessen Schlager "Sag zum Abschied, leise Servus", "Goodbye Jonny" und "Du bist zu schön, um treu zu sein" sich auch heute noch einiger Beliebtheit erfreuen.

Tondokument: Ansprache Goebbels/Das deutsche Volk am Donaustrand

Kreuder, der Komponist des soeben gehörten Liedes, war beileibe nicht der einzige Musiker, der sich dem Nazi-Regime anbiederte. Hunderte von Kompositionen waren dem Führer gewidmet. Ähnlich verhielt es sich im real existierenden Sozialismus. Selbst etablierte, international geachtete Komponisten erlagen der Versuchung, dem jeweiligem Regime zu dienen. Die markantesten Beispiele in Nazideutschland waren Werner Egk und Richard Strauss. In der DDR konnten sich Eisler und Dessau manch peinliche Regimehuldigungskantate nicht verkneifen. Paul Dessau ließ sich sogar zu der Plattitüde hinreißen, in seine Komposition "An die Mütter und an die Lehrer" die Kürzel der Partei, die immer recht hatte, (ES-E.D) melodisch einzuarbeiten.

Werfen wir aber nun einen Blick auf den Zusammenhang von Musik und Politik in der Bundesrepublik Deutschland. Auch hier wurde - vor allem in den vierziger bis sechziger Jahren - die musikalische Entwicklung argwöhnisch beobachtet und - insbesondere in den christlichen Volksparteien - die Bedeutung einer gesunden, im Volkstum verwurzelten in den Vordergrund gerückt. So verkündete der ehemalige Bundespräsident Dr. h.c. Heinrich Lübke 1962 anlässlich der Jahrhundertfeier des Deutschen Sängerbundes:

"Keine Musikkultur wird auf Dauer gesund bleiben, wenn sie nicht aus den ursprünglichen Quellen des Volkstums gespeist wird."

Was Lübke damit meinte, verrät eine weitere Passage seiner Rede: "Es scheint mir bezeichnend für die innere Verfassung unseres Volkes zu sein, dass es bei uns noch nicht wieder zu einem neuen vaterländischen Singen gekommen ist."

Die verräterische Sequenz dieser Aussage - hierauf hat bereits Fred Prieberg in seinem ausgezeichneten Buch "Musik und Macht" hingewiesen lautet "noch nicht wieder". Drückt sich hier nicht das Bedauern aus, dass die naiv vaterländische, nationalsozialistische Musikkultur nach dem Ende des Krieges zerstört wurde? Dies ist kaum von der Hand zu weisen. Außerdem sollten wir nicht vergessen: Auf zünftigen CSU-Wahlkampfveranstaltungen ertönt noch immer die gleiche volkstümelnde Blasmusik, die dereinst Nazischergen in Bierlaune versetzte. Im vom Bundesverteidigungsministerium herausgegebenen Liederbuch der Bundeswehr "Hell klingen unsere Lieder" wurden bis in die sechziger Jahre hinein NSKriegslieder abgedruckt. Und wie groß ist auch heute noch die konservative Klage über den vermeintlich verderblichen Einfluss von Pop- und Rockmusik auf die Jugendlichen.

Der Musikwissenschaftler Prof. Dr. Friedrich Oberkogler z.B. sieht im Aufkommen der Pop-Musik gar ein sicheres Anzeichen für den bevorstehenden Untergang der Menschheit. Ich zitiere aus seiner Schrift "Pop-Musik. Faszination der Jugend.": "Seien wir uns an dieser Jahrtausendwende bewußt: die apokalyptischen Tiere haben sich aus dem Abgrund erhoben und beginnen ihre Herrschaft auszubauen, um Menschheit und Erde aus der Bahn ihrer wesenseigenen Entwicklung zu werfen. [...] Die Pop-Musik ist für diese Mächte eine Waffe, die in der Seelensphäre dem physischen Zerstörungswerk der Wasserstoffbombe in nichts nachsteht. [...] Nicht nur die 'Höhen', auch der Abgrund hat seine Musik. Der 'Underground' des Pop ist in seiner Namensgebung symbolträchtiger, als er selbst es ahnt."

Zweifellos ist solche Rede in unseren Zeiten selten geworden. Die postmodernpluralistische Kultur des Spätkapitalismus verlangt eine grandiose Vielfalt nicht nur der Goudasorten, sondern auch der Musikarten. Pop-Musik ist etabliert. Sie stellt keine Bedrohung mehr da. Warum auch? Sie gehorcht in der Regel sklavisch den Gesetzen des Marktes, die immer mehr auch unser politisches System bestimmen. Insofern ist das politische System gegenüber musikalischen Innovationen aufgeschlossen wie noch nie zuvor. Neue Musikstile – hier unterscheiden wir uns von Platon - werden das gegenwärtige Polit-System der Vermarktung kaum erschüttern. Im Gegenteil. Sie sind höchst willkommene Phänomene, versprechen sie doch eine Umsatzsteigerung in der Musikindustrie. Freilich: Die These eines Zusammenhangs von Musik und Politik wird dadurch nicht in Frage gestellt. Allein eine Musik, die das gängige Marktprinzip in Frage stellen würde, könnte dem gegenwärtigen System gefährlich werden. Doch um überhaupt gehört zu werden, müsste solch marktkritische Musik selbst erst einmal vermarktet werden. Ein Paradoxon, an dem so mancher subkulturelle Musiker verzweifelte.

2. Der große Diktator und die tiefenpolitische Dimension der Musik

Bisher habe ich ausgeführt, dass Musik stets in einem politischen Kontext produziert, rezipiert und von Herrschern kontrolliert wurde und wird. Nicht gefragt wurde bisher nach dem eigentlichen Kern, dem Wesen der Musik. Hat Musik wirklich politische Dimensionen, wie Platon behauptete? Wenn ja: Was macht dann das Politische in der Musik aus? Damit sind wir wieder bei jenen Fragen angelangt, die ich bereits am Anfang des Vortrags stellte: War bzw. ist Wagners Musik wirklich reaktionär? Warum spielten die Nationalsozialisten Beethovens Sinfonien? Und warum besitzt der Religionskritiker MSS sämtliche Sinfonien des Erzkatholiken Anton Bruckner, der ja nicht nur von marianischen Christen, sondern u.a. auch von Adolf Hitler glühend verehrt wurde? Bin ich vielleicht im Innersten meines Wesens ein Katholik oder gar ein Faschist?

Brennende Fragen, auf die ich erstmals eine befriedigende Antwort fand, als ich mir den Chaplin-Film "Der große Diktator" ansah. In diesem Film demonstriert Chaplin in grandioser Weise die politische Mehr- und Eindeutigdeutigkeit der Musik. Aber sehen sie selbst:

Filmausschnitt: Chaplin: Der große Diktator,

Szene: Hynkel tanzt mit dem Erdball

In dieser wichtigen Szene des Films stellt Chaplin symbolisch die Welteroberungsphantasien des Diktators Anton Hynkel dar. Zu den sphärischen Klängen aus Wagners Lohengrin-Vorspiel tanzt Hynkel mit dem Globus, bis dieser am Ende zerplatzt. Wagners Musik illustriert hier faschistische Allmachtsphantasien.

Wenden wir uns nun einer zweiten entscheidenden Szene des Films zu. Chaplin spielt in seiner Hitler-Parodie nicht nur den Diktator Anton Hynkel, sondern auch einen kleinen, bescheidenen Friseur aus dem jüdischen Ghetto. Nachdem der Friseur aus dem Konzentrationslager geflüchtet ist, kommt es aufgrund der äußerlichen Ähnlichkeit der beiden Figuren zu einer verhängnisvollen Verwechslung: Der Diktator landet im Lager, während sich der Friseur am Rednerpult wiederfindet. Die braunen Massen erwarten den Marschbefehl, doch der als Hynkel verkleidete Friseur will niemanden erobern, ausbeuten, ermorden. Stattdessen hält er eine fulminante Rede über Demokratie, Freiheit, Gleichberechtigung, ruft rührend pathetisch zum Aufbau einer besseren, gerechteren Welt auf. Achten Sie bitte auf die Musik am Ende dieser Rede.

Filmausschnitt: Chaplin: Der große Diktator.

Schlußszene: Rede des Friseurs. Hannah blickt nach oben.

Haben Sie die Musik wieder erkannt? Wenn ja, haben Sie richtig gehört. Auch an dieser Stelle verwendet Chaplin Wagners Lohengrin-Vorspiel. Doch wie kann das sein? Ist Musik so beliebig, dass sie sowohl faschistische Allmachtsphantasien als auch flammende Aufrufe zu Demokratie illustrieren kann? Es scheint so. Allerdings darf man hierbei nicht übersehen, dass hinter der offensichtlichen Gegensätzlichkeit der politischen Ziele doch eine große Gemeinsamkeit steckt. Hynkels Eroberungsphantasien und die flammende humanistische Rede des Friseurs haben eine identische tiefenpolitische Struktur. Beide sind Ausdruck des sehnsüchtigen Verlangens nach Überwindung der als defizitär empfundenen Wirklichkeit. Beide wollen radikale Veränderung, sie streben nach Erlösung, wollen die Grenzen der gegenwärtigen Situation utopisch überschreiten. Allein deshalb eignet sich Wagners Musik in beiden Fällen. Mit Mozarts kleiner Nachtmusik hätte Chaplin die beiden Szenen nicht untermalen können.

Musik kann demnach tiefenpolitisch eindeutig, realpolitisch hingegen vieldeutig sein. Erst in Kombination mit Wort und/oder Bild lässt sich die politische Tiefenstruktur der Musik in ein realpolitisches Gewand pressen. Dies ist der Grund dafür, dass die Musik der politischen Rechten und der politischen Linken oftmals austauschbar waren und sind. Bei aller oberflächlichen Unterschiedlichkeit ihrer Programme basierten sie doch auf einer ähnlichen Tiefenstruktur, auf einer ganz bestimmten affektiven Positionierung hin zur Welt.

Kommen wir nun zurück auf meine doch etwas peinliche Brucknerleidenschaft: Die Tatsache, dass ich mir hin und wieder die Sinfonien von Bruckner zu Gemüte führe, ist sicherlich kein Zeichen dafür, dass ich die politischen und religiösen Überzeugungen dieses erzkonservativen Mannes teilen würde. Im Gegenteil. Ähnlich wie Karlheinz Deschner, der sich merkwürdiger Weise auch dazu bekannte, Bruckner zu hören, genieße ich trotz der Frömmelei des Komponisten dessen eigentümliche Sinfonik, weil sie mir das unfassbare, unbegreifliche, unausprechliche Wunder des Lebens musikalisch zumindest erahnen lässt. (Ähnliches würde ich auch im Falle Arvo Pärts sagen, dessen weltanschuliche Überzeugungen ich in vielen Punkten ebensowenig teile wie die Bruckners,)

Anders formuliert: Ich liebe in gewisser Weise die Musik Bruckners, weil ich auf einer bestimmten tiefenpolitischen Ebene ähnlich empfinde. Man kann es vielleicht mit dem Ausdruck "Demut" umschreiben - mir fällt im Moment kein besserer Begriff ein. Bei Bruckner war es die Demut vor der Größe des christlichen Gottes. In meinem Fall ist es die Demut vor der unbegreiflichen Größe des Kosmos bzw. der merkwürdigen Tatsache, dass wir sind und nicht vielmehr nicht sind.

(Nebenbei - bevor Sie sich nun um meinen Geisteszustand sorgen: Freilich höre ich auch Musik, die ästhetisch wie tiefenpolitisch mit der Musik Bruckners überhaupt nicht kompatibel ist. So genieße ich zum Beispiel ebenso die dionysische Primitivität, die pure sexuelle Energie eines AC/DC-Riffs, die spielerische Leichtigkeit eines Soulgrooves oder die selbstzerfleischende Düsternis eines Nirvana-Songs.)

Erst das gesamte musikalische Geschmacksspektrum eines Menschen gibt Auskunft über seine tiefenpolitische Grundstruktur, oder einfacher ausgedrückt: seine Persönlichkeit, seinen Charakter. Ein wenig überspitzt könnte man sagen: Sag mir, welche Musik du hörst - und ich sage dir, wer du bist. Dies gilt nicht nur für Individuen, sondern durchaus auch für Gesellschaften.

Wie sehr der tiefenpolitische Gehalt von Musik ihre gesellschaftliche Rezeption bestimmt, lässt sich sehr schön am Beispiel Gustav Mahlers erläutern. Mahler, selbst ein großer Verehrer des ihm intellektuell weit unterlegenen Anton Bruckner, gilt heute als der große Komponist der klassischen Moderne, als "Zeitgenosse der Zukunft". Seine Sinfonien gehören zu den meist gespielten in der ganzen Welt und es ist kein Zufall, dass die als krönender Abschluss des Jahrhunderts gedachten Berliner Festwochen 1999 ausgerechnet das Gesamtwerk Mahlers zu Gehör brachten. Die besondere Hochachtung, die Mahler heute genießt, ist allerdings neueren Datums. Bis in die sechziger Jahre hinein galt Mahler als gescheiterter Komponist, dessen groß dimensionierte Sinfonien von zu hohen Ansprüchen und zu geringem Können zeugten. Man sah in ihm einen "Potpurrikomponisten", der sich aus verschiedenen Stücken bewährter Komponisten seine Werke zusammenklaubte, ohne schöpferischen Gestaltungswillen, schwach, intellektualistisch, uninspiriert, von seltsamen Leidenschaften geplagt. Erst mit den gewaltigen kulturellen Veränderungen der späten Sechziger wandelte sich das Bild. Dies lag nicht allein daran, dass man sich damals verstärkt den Opfern nationalsozialistischer Zensur annahm. Auch nicht allein daran, dass die neu aufkommende Stereo-Schallplatte die Raumdimensionen der Mahlerschen Musik besser transportieren konnte. Entscheidend war sicherlich, dass die tiefenpoltitische Struktur der Mahlerschen Musik irgendwie den Puls der Zeit traf. Mahlers Zerrissenheit, seine Skepsis, sein Willen und seine gleichzeitige Unfähigkeit zu naivem Glauben machte ihn attraktiv in einer Zeit, in der viele Menschen - insbesondere der jüngeren Generation - den tradierten Weltentwürfen, Werten und Überzeugungen der Vergangenheit keinen Glauben mehr schenken konnten. Das, was noch wenige Jahre zuvor als Zeichen künstlerischer Unausgewogenheit galt (z.B. die ironische Aufhebung des Trauermarsches im dritten Satz seiner 1. Sinfonie), wurde nun als besonderes Signum der ungewöhnlichen künstlerischen Reife Mahlers gedeutet. Meines Erachtens kommt die ungeheure, auch heute noch aktuelle Zerissenheit und existentielle Spannung der Mahlerschen Musik besonders gut im letzten Satz der in der Orchestrierung unvollendet gebliebenen 10. Sinfonie zum Ausdruck. Hören Sie nun einen Auszug aus diesem letzten Satz Mahlers. Meines Erachtens wurde weder zuvor noch danach jemals etwas vergleichbar Erschütterndes komponiert.

Hörbeispiel: Mahler: 10. Sinfonie, 5. Satz: Finale

Fazit



Lassen Sie mich nun zum Abschluss das bisher Gesagte zusammenfassen: Ich habe versucht darzulegen, dass Musik weit mehr ist als bloße Organisation von Klangmustern in Raum und Zeit. Musik ist niemals reine Form. Sie ist stets Ausdruck existentieller tiefenpolitischer Inhalte, die alles andere als beliebig sind. Und gerade deshalb macht es Sinn über Geschmack in der Musik zu streiten. Die Musik, die wir hören, ist nicht beliebig, sondern Ausdruck unseres spezifischen Verhältnisses zur Welt. Da es nicht gleichgültig ist, wie sich ein Mensch zur Welt stellt, ist es auch nicht gleichgültig, welche Musik er hört.

Das Projekt der Aufklärung endet nicht an den Pforten zur Ästhetik. Wir sollten über Geschmack streiten wollen, denn musikalische Dummheit ist so gefährlich wie jede andere Dummheit auch. Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere hier nicht für eine einseitig intellektuelle, kopflastig fortschrittliche Musik. Nein, unsere Musik - oder vielleicht sage ich besser: unsere Musiken sollten die gesamte Fülle des Lebens widerspiegeln können. Sie sollten mal lebhaft, mal niedergeschlagen, mal hoffnungsvoll, mal skeptisch sein, sie sollten uns Material zum Denken und zum Empfinden geben, mal Kopf, mal Unterleib ansprechen. Einseitigkeiten sollten wir dringend vermeiden. In einer Gesellschaft, in der nur gregorianische Gesänge, Bruckner-Sinfonien und Arvo Pärtsche Kammermusik gespielt würden, wollte ich ganz sicherlich nicht leben. Man würde mich wahrscheinlich auf dem nächstbesten Scheiterhaufen als Ketzer verbrennen. Ebenso wenig aber möchte ich in einer Gesellschaft leben, in der von morgens bis abends hochgestylte Popmusik erklingt. In Anbetracht der damit einhergehenden dümmlichen Oberflächlichkeit würde ich mich möglicherweise selber verbrennen wollen, freilich ohne dass dies im bunten Allerlei des Marktgeschehens groß bemerkt würde.

Abschließende Frage: Hatte Platon nun recht? Kann Musik tatsächlich die Welt verändern? In gewissem Sinne ja. Sie verändert die Welt, indem sie unser Verhältnis zur Welt verändert. Und sie macht dies auf eine geheimnisvolle, sprachlich kaum fassbare, eine die Tiefenschichten unseres Ichs beeinflussende Weise. Allerdings - und dies scheint Platon doch übersehen zu haben: Eine neue Musik, die potentiell in der Lage ist, die Welt zu verändern, fällt selbst nicht vom Himmel. Vielmehr ist sie das Produkt bereits veränderter Umweltbedingungen. Insofern muss man festhalten, dass die Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik und die sie produzierenden Musiker zu verändern. Ein interessantes dialektisches Verhältnis, auf das ich morgen etwas näher eingehen werde.

Dr. Michael Schmidt-Salomon, Trier

Vortragsreihe: Musik und Politik

Teil 2:

Kann Musik die Welt verändern?

Die Musik der alten und neuen Linken

Wie ich bereits gestern abend ausgeführt habe, wurde seit Platon das Verhältnis von Musik und Politik immer wieder problematisiert. Politische Herrscher verwandten viel Zeit darauf, Musik zu kontrollieren, unterstellte man doch, dass Musik unten Umständen in der Lage sei, die Verhältnisse zum Tanzen zu bringen. Eine Vorstellung, die ihnen aus verständlichen Gründen nicht behagen konnte.

Nun, wie so oft: Des einen Befürchtung, ist des anderen Hoffnung. Innerhalb der linken Widerstandsbewegung setzte man große Erwartungen in die vermeintlich revolutionäre Kraft der Musik. Dies änderte sich erst, als die ersten Funktionäre, die sich selber Linke nannten, an die Macht kamen und sogleich damit begannen, unliebsame Neuerungen in der Musik zu unterbinden. Dazu später mehr.

Konzentrieren wir uns zunächst auf die subversiven, die widerständigen Phasen linker Musikproduktion. In Deutschland erblühte in den zwanziger Jahren dank des Engagements von Dirigenten wie Hermman Scherchen, Jascha Horenstein und Karl Rankl eine starke Arbeitermusikbewegung. Musikalisch lehnten sich viele Stücke dieser Bewegung an Volksmusiktraditionen an. Ein klassisches Beispiel hierfür ist der berühmte "Rotgardisten-Marsch" "Brüder zur Sonne, zur Freiheit", aus dem wir nun einen kurzen Ausschnitt hören werden:

Tondokument: Brüder zur Sonne, zur Freiheit

Sieht man einmal von den kunstvoll-experimentellen Versuchen im Umfeld von Brecht, Weil und Eislers ab, muss man festhalten, dass sich die Musik der Linken in der damaligen Zeit wenig von der Musik der Rechten unterscheidet. Blendet man die Texte aus, kann man in vielen Fällen kaum entscheiden, ob man es mit linken oder rechtem Musikgut zu tun hat. Zu sehr entsprechen sich die Kompositionen in Melodik, Harmonik, Rhythmik, Interpretation.

Ich habe Ihnen gestern abend das Nazi-Propagandalied "Die Deutschen am Donaustrand" von Ernst Kreuder vorgespielt. Vielleicht haben Sie den Song noch im Ohr. Wenn ja, vergleichen Sie diesen rechten Propagandasong doch einmal mit dem nun folgenden linken, dem 1936 von Paul Dessau komponierten Lied "Die Thälmannkolonne", einem regelrechten Schlager in antifaschistischen Kreisen. Sie hören eine Aufnahme von 1938 mit dem berühmten Arbeitersänger Ernst Busch:



Tondokument: Die Thälmannkolonne

Wie kann man sich die Ähnlichkeiten der musikalischen Kulturen der politisch verfeindeten Lager erklären? Nun, ich habe es bereits gestern abend angesprochen: Die Kulturen der politischen Rechten und der politischen Linken waren sich in ihrer Tiefenstruktur recht ähnlich. In diesem Zusammenhang ist es sinnvoll, an eine sozialspychologische Untersuchung zu erinnern, die Erich Fromm Ende der Zwanziger Jahre im Auftrag des Frankfurter Instituts für Sozialforschung in Deutschland durchführte. In dieser mittlerweile berühmten Untersuchung über die Charaktereigenschaften der "Arbeiter und Angestellten am Vorabend des dritten Reichs" kamen Fromm und seine Mitarbeiter zu politisch hoch brisanten Ergebnissen. Man fand nämlich heraus, dass sich der Anhänger der Kommunistischen und Sozialdemokratischen Partei in ihren Tiefenstrukturen bzw. Charaktereigenschaften kaum von den Anhängern der NSDAP unterschieden. Autoritäre Lebensorientierungen - gerade auch im kulturellen Bereich - herrschten diesseits wie jenseits der politischen Barrieren vor. Fromm folgerte daraus, dass der Erfolg einer wahrhaft linken - das hieß für Fromm vor allem: antiautoritären - politischen Bewegung in Deutschland nahezu ausgeschlossen sei, schlimmer noch: dass bei einer möglichen Machtübernahme der Nationalsozialisten ein Großteil der Arbeiter das Hammer-und-Sichel-Emblem sorglos gegen das Hakenkreuz eintauschen würde. Ein wahrlich düstere Prognose, die - wie wir heute wissen - schrecklich wahr wurde.

Interessanterweise wurde Fromms Studie damals nicht veröffentlicht. Die Vorstellung, dass erklärte Anhänger von SPD und KPD aufgrund ihrer Charakterstrukturen willige Stützen des Naziregimes werden konnten, passte vielen Linken nicht ins Konzept. Wie dem auch sei: Für unsere Überlegungen ist die Frommsche Studie höchst aufschlussreich, denn sie hilft, die im ersten Moment überraschende tiefenpolitische Identität linker und rechter Musik zu verstehen: Wenn autoritäre Charakterorientierungen diesseits und jenseits der politischen Fronten auftraten, so ist es kein Wunder, dass dies auch die musikalischen Formen bestimmte, schließlich wurde die Musik dieser Jahre ja vornehmlich von diesem autoritären Charaktertyp konsumiert und produziert.

Ein wirklich entscheidender Bruch mit der autoritären Musiktradition fand erst in den sechziger Jahren statt. Mit dem Aufkommen der antiautoritären Bewegung und ihrer Musik, der Rockmusik, entwickelte sich eine neue Ästhetik des Widerstands. Es entstanden neue Fronten, die interessanterweise nicht nur zwischen autoritär rechter und antiautoritär linker Musik verliefen, sondern auch zwischen der antiautoritär linken Musik des Westen und der autoritär linken Musikkonzepten des Ostens. Den sozialistischen Machthabern war die neue rebellische Musik der Jugend schnell ein Dorn im Auge. Zwar glaubte man zunächst, gegen die Beatwelle nicht wirklich einschreiten zu müssen. (In einem entsprechenden Dokument aus den frühen sechziger Jahre heißt es sogar scheinbar liberal: "Wir betrachten den Tanz als einen legitimen Ausdruck von Lebensfreude und Lebenslust. [...] Niemandem fällt ein, der Jugend vorzuschreiben, sie solle ihre Gefühle und Stimmungen beim Tanz nur im Walzer- oder Tangorhythmus ausdrücken. Welchen Takt die Jugend wählt, ist ihr überlassen: Hauptsache, sie bleibt taktvoll!") Bald aber wendete sich das Blatt. Nur kurze Zeit später erklärte der Genosse Erich Honecker, "daß es im Zentralrat der Freien Deutschen Jugend eine fehlerhafte Beurteilung der Beat-Musik gab. Sie wurde als musikalischer Ausdruck des Zeitalters der technischen Revolution 'entdeckt'. Dabei wurde übersehen, daß der Gegner diese Art Musik ausnutzt, um durch die Übersteigerung der Beat-Rhythmen Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen. Der schädliche Einfluß solcher Musik auf das Denken und Handeln Jugendlicher wurde grob unterschätzt." Konsequenz dieser Neubesinnung: Die Partei versuchte nun mit allen Mitteln, die entsprechenden Kommunikationskanäle zu schließen und die DDR-Jugendlichen vor dem Eindringen des gemeinen Rockvirus zu beschützen. Ein Versuch, der - wie wir wissen - gründlich mißlang. Als man in der Staatsführung merkte, dass der Konsum westlicher Rock- und Beatmusik auch durch Boykott und Einfuhrverbote nicht zu verhindern war, versuchte man es mit einer neuen Strategie. Staatlich ausgebildete Musikerkollektive erhielten den Auftrag, sich um den Aufbau einer neuen schmissigen "Jugendtanzmusik" zu bemühen. Freilich: Meist (Ausnahmen bestätigen die Regel) handelte es sich dabei nur um fade Kopien westlicher Rockmusik, die niemandem wehtaten, aber gerade dadurch auch niemanden so richtig mitrissen.

Wie anders damals die Entwicklung im Westen. Die neu aufkommende Pop- und Rockmusik schrieb einen fulminanten Soundtrack zu den großen Studentenunruhen der Sechziger Jahre. Pop-Poeten und umherschweifende Haschischrebellen gaben den ehemals arg steifen politischen Diskursen der Linken eine völlig neue Note. Es formierte sich eine neue, antiautoritäre, hedonistische Linke, eine Linke, die mit dem bitteren Ernst kommunistischer Parteiprogramme nichts mehr anzufangen wusste.

Der berühmt-berüchtigte amerikanische Studentenführer Jerry Rubin z.B. formulierte das politische Programm der Yippies (so bezeichneten sich damals die politisch aktiven Hippies) folgendermaßen: "Die Yippies sind Marxisten. Wir stehen in der revolutionären Tradition von Groucho, Shico, Harpo und Karl. Was die Yippies von Karl Marx, dem berüchtigsten, bärtigen, langhaarigen, hipkommunistisch-frei-verrückten Agitator der Geschichte, lernen, ist die Tatsache, dass wir einen spektakulären Mythos der Revolution hervorbringen müssen. Karl schrieb und sang sein eigenes Rock-Album mit dem Titel "Kommunistisches Manifest". "Das Kommunistische Manifest" ist ein Song, der Regierungen gestürzt hat." Selbst ein eher unpolitischer Kopf wie Mick Jagger ließ sich zu politischen Statements hinreißen. Er trat an die Öffentlichkeit mit markanten Sprüchen, wie dem berühmten Satz, dass das Problem mit John Lennon sei, dass dieser nie Marx gelesen habe. Außerdem schuf er gemeinsam mit Keith Richards zahlreiche Songs, die den aufrührerischen Geist der späten Sechziger adäquat ihn Töne umsetzten. Ein hervorragendes Beispiel hierfür ist der Song "Street fighting man" von 1968:

Musikbeispiel: Rolling Stones: Street fighting man

Der Text des Songs läßt sich folgendermaßen übersetzen:

Überall höre ich den Klang marschierender Schritte, Junge / Denn der Sommer ist hier und die Zeit ist da, um in der Straße zu kämpfen, Junge / Aber was kann ein armer Junge tun / außer in einer Rock´n Roll Band zu singen / denn im verschlafenen London / gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein! / Hey, ich denke, die Zeit ist gekommen für eine Palastrevolution/ Aber dort, wo ich lebe heißt das Spiel, das man spielen muss Kompromisslösung / Nun was kann ein armer Junge tun / außer in einer Rock´n Roll Band zu singen / im verschlafenen London / gibt es keinen Platz für einen Straßenkämpfer! Nein!

Zwei Jahre später nahm dann Eric Burdon die berühmte Platte "Eric Burdon declares War" auf. Auf dieser auch heute noch mitreißenden Scheibe findet sich u.a. das 14 minütige Stück "Tobacco Road", ein ekstatischer Aufschrei gegen das Elend der Armen verbunden mit der kompromißlosen Kampfansage, mit allen verfügbaren Mitteln für eine bessere, gerechtere Welt zu kämpfen. Auch aus diesem Klassiker wollen wir einen kurzen Ausschnitt hören:

Musikbeispiel: Eric Burdon & War: Tobacco Road

In Deutschland sorgte vor allem die Band "Ton, Steine, Scherben" mit programmatischen Titeln wie "Macht kaputt, was euch kaputt macht" und "Keine Macht für niemand" für zeitgeistkonforme, kritische Töne. Doch die Zeiten der Revolte waren bald vorbei. Die revolutionären Blütenträume einer ganzen Musikergeneration zerschellten an der ganz und gar nicht revolutionär anmutenden Realität. Zahlreiche Musiker zogen sich aus der politischen Sphäre gänzlich zurück und produzierten nun eine Musik, die keinen anderen mehr Anspruch hatte, als gute Musik zu sein. Es war die große Zeit des Artrock. Supergroups wie Yes, Emerson, Lake & Palmer und Genesis verknüpften Rock- und Jazzelemente geschickt mit Partikeln klassischer Bildungsmusik. Ihre Musik wurde immer komplexer und polyphoner. Bands wie Gentle Giant gingen sogar dazu über, mehrstimmige Fugen zu schreiben, was zwar erfahrene Musikliebhaber erfreuen konnte, aber mit der Realität der Jugendlichen auf der Straße kaum noch etwas zu tun hatte.

Die Revolte gegen diese Form von Bildungsrock war vorprogrammiert und sie erschien in Gestalt des Punk, der das Niveau der Musik wieder auf ein Minimum reduzierte, der statt kunstvollen Metaphern einfache rebellische Botschaften in den Vordergrund stellte. Freilich: Auch die subversive Kraft des Punk war zeitlich sehr begrenzt. Es dauerte nicht lange und auch der Punk verkam zu einer bloßen, hohlen Modeattitüde.

Ungefähr zu dieser Zeit wurde immer mehr Musikern und Musikjournalisten bewusst, dass Popmusik kaum die Kraft hatte, die Verhältnisse wirklich zum Tanzen zu bringen. Im Gegenteil. Man mußte anerkennen, dass die Musik stets nach der Vorgabe der Verhältnisse tanzte. Ja, selbst die schärfste politische Aussage geriet unter den Maßstäben der Musikindustrie zur leicht konsumierbaren Ware, wurde - wie Adorno schon lange Zeit zuvor festgestellte hatte - zu einer fetischierten, affirmativen Stütze der etablierten Ordnung.

Der überwiegenden Mehrzahl der Musiker war all dies jedoch ziemlich egal. Für sie war Musik ohnehin nicht viel mehr als eine Kombination von Fun und Geschäft. Doch es gab auch Künstler, die ihre Musik als Botschaft verstanden, die sich mit der kommerziellen Entschärfung und Verdinglichung ihrer künstlerischen Projekte nicht abfinden wollten. Hierzu gehörten nicht nur Independent-Künstler, die gewissermaßen aus ihrer Not (also der fehlenden Vermarktungsmöglichkeiten ihrer Produkte) eine Tugend machten, sondern auch echte Megastars wie der ehemalige Kopf der Supergroup "Pink Floyd", Roger Waters.

Waters, der für einige der legendärsten und meist verkauftesten Alben der Musikgeschichte verantwortlich zeichnet (u.a. "Dark Side of the Moon", "Wish you were here" und "The Wall"), war sich recht früh bewusst, dass die sozialistischhumanistischen Botschaften seiner Songs im Kontext des industriellen Rockbusiness radikal entschärft werden mussten. Bereits das Album "Wish you were here" war von seinem Konzept her eine bitterböse Abrechnung mit der Musikindustrie, die Waters zufolge nicht weiter war als eine kalte seelenlose Maschine, in der unfähige Manager danach strebten, noch den letzten Funken Geist aus der Musik zu verbannen. Im Laufe der Jahre steigerte sich Waters' Aversion gegen das Business ins Unermessliche. Auf der gigantischen Pink Floyd-Tour des Jahres 1977 kam es dann zum Eklat. Waters Haß auf die Fans, die ihm wie gelenkte Marionetten der Musikindustrie erschienen, entlud sich in einer Aktion, die den Bassisten und Sänger vor sich selbst erschrecken ließ. Er guckte aus der Reihe der Fans einen besonders frenetisch jubelnden aus der ersten Reihe heraus, ging auf ihn zu und spuckte dem armen Kerl voller Abscheu ins Gesicht. In diesem Moment, sagte Waters später, sei ihm der Grundgedanken zu "The Wall" gekommen, dem vielleicht ambitioniertesten Projekt der Popgeschichte. Das zwei Jahre später erschienene Konzeptalbum "The Wall" erzählt auf vier prall gefüllten LP-Seiten von dem Rockstar Pink, der von Kindesbeinen an versucht, sich durch den Bau einer psychischen Mauer von der bedrohlichen Umwelt zu schützen. Elternhaus, Schule, Kampf der Geschlechter, Warenwelt, Musikbusiness, Drogen: all dies sind Steine in Pinks Mauer der Entfremdung. Pink läßt keine echten Gefühle mehr an sich heran. In dem Moment, in dem er sich völlig von der Außenwelt abgekoppelt hat, mutiert er zu einem faschistischen Demagogen, der vor begeistertem Publikum sein Unwesen treibt, solange, bis er - ähnlich seinem Schöpfer Roger Waters - vor dem totalen Nervenzusammenbruch steht. Am Ende bricht das komplexe System seiner psychischen Mauern zusammen. Aber die Krise ist bei Waters nicht nur Untergang. Sie nährt auch die Hoffnung auf ein neues Leben jenseits der Entfremdung.

Als "The Wall" dann auf die Konzertbühnen der Welt kam, scheute sich Waters nicht, die ihn beklemmende Barriere zwischen Künstler und Publikum auf drastische Weise zu verdeutlichen. Während die Musiker ihre Songs spielten, errichteten die Bühnenarbeiter eine riesige Mauer zwischen Band und Fans. Nach der Hälfte des Programms war von der berühmten Band nichts mehr zu sehen. Ein äußerst gewagtes Konzept, doch die Rechnung ging auf. "The Wall" wurde innerhalb kürzester Zeit zum meistverkauftesten Doppelalbum aller Zeiten, alle Shows der Tour waren restlos ausverkauft, der wenig später abgedrehte Film von Alan Parker gehört bis heute zu den größten Verkaufsschlagern auf dem Videomarkt. Trotz dieses immensen Erfolgs war Waters nicht zufrieden. Denn "The Wall" wurde - trotz seiner magenbitteren Botschaft - auf gleiche Weise konsumiert wie jedes andere Popprodukt. Jugendliche tanzten gutgelaunt in den Diskotheken zu "Another Brick in the Wall", ohne sich groß Gedanken darüber zu machen, was der Autor des Songs damit eigentlich mitteilen wollte.

Waters zog aus dieser Erfahrung wiederum radikale ästhetische Konsequenzen und spitzte seine musikalische Formsprache noch weiter zu. "The Final Cut", das letzte Album, das Waters mit Pink Floyd aufnehmen sollte, zählt sicherlich zu den kompromißlosesten Werken der Rockmusik. Untertitelt mit der programmatischen Zeile "a requiem for the post war dream by roger waters" stellt "the final cut" in zwölf düsteren Songs die letzten Gedanken eines imaginären Ichs dar, das in seinem Autos fahrend vom Anblick zweier Sonnen überrascht wird: den letzten Strahlen der untergehenden Sonne im Westen sowie dem Lichtblitz einer Atombombe im Osten.

Mit diesem Szenario reagierte Waters auf Maggie Thatchers Falkland-Krieg. Die bittere Schärfe seines Angriffs und der beißende Pessimismus seiner Texte ist kaum zu überbieten. Ich möchte Ihnen dies anhand zweier Stücke aus diesem Album demonstrieren, nämlich den Nummern: "get your filhy hands off my desert" (also: Lass deine dreckigen Hände aus meiner Wüste) und "the fletcher memorial home" Zum besseren Verständnis des letztgenannten Songs möchte ich Ihnen hier eine grobe Übersetzung des Textes geben:

Nehmt all eure übermächtigen Kindsköpfe zur Seite

Und baut ihnen ein Haus, einen kleinen Ort nur für sie allein

Das Fletcher Gedächtnis Haus für unheilbare Tyrannen und Könige

Und sie können sich selbst betrachten - jeden Tag

Auf den Bildschirmen eines allein ihnen zugänglichen Fernsehkanals

Sie brauchen das, um sich ihrer eigenen Existenz sicher zu sein

Es ist die einzige Verbindung, die sie fühlen

"Meine Damen und Herren, begrüßen Sie bitte Reagan und Haig, Herrn Begin mit Freund, Frau Thatcher und Paisley, Herrn Breschnew und Partei, den Geist von McCarthy, Erinnerungen an Nixon, und nun - um etwas Farbe hinzuzufügen - eine Gruppe anonymer lateinamerikanischer High-Society-Schlampen..."

Haben sie etwa erwartet, dass wir sie auch nur mit dem kleinsten Funken Respekt behandeln?

Sie können ihre Medaillen polieren und ihr Lächeln schärfen

Und sich selbst eine Zeit lang mit kleinen Spielchen amüsieren: Bumm-bumm, bäng-bäng, leg dich hin, du bist tot!

Sicher verwahrt unter der permanenten Kontrolle eines kalten Glasauges Und versorgt mit ihren liebsten Spielzeugen

Werden sie gute Jungen und Mädchen sein

Im Fletcher Gedächtnis Haus für koloniale Verschwender des menschlichen Lebens

Ist jeder drinnen?

Hattet Ihr eine gute Zeit?

Dann können wir jetzt mit der Endlösung beginnen.

Soweit der Text. Wie Sie mir sicherlich zustimmen werden, ist dies schon ziemlich harter Tobak - zumindest für ein millionenfach verkauftes Pop-Album. Immerhin wird hier nichtanderes erträumt als die Ausrottung beinahe der gesamten politischen Führungsriege der Welt. Hören wir uns nun an, wie Waters diesen Text musikalisch umsetzt...

Musikbeispiel: Pink Floyd:

Get your filthy hands off my desert/the flechter memorial home

Wie gesagt: The Final Cut war das letzte Album, das Waters unter dem Label Pink Floyd aufnahm. Er produzierte danach noch einige Soloalben, aber diese erlangten

nie die Popularität der früheren Pink Floyd Werke. Seine Mitmusiker waren kommerziell gewitzter. Sie fanden sich Mitte der Achziger wieder unter dem Markenzeichen "Pink Floyd" zusammen und plünderten den Schatz des Waters´schen Vermächtnisses hemmungslos aus. Zum großen Entsetzen von Waters ließen sie es sogar so weit kommen, dass Volkswagen ein Sondermodell "Golf Pink Floyd" auf den Markt brachte. Schlimmer noch: Auf der Präsentation des neuen Golf-Modells verkündete einer der führenden Volkswagen-Manager sogar, Waters' berühmte Kampfansage an das Geldsystem, der Song "Money" von "Dark Side of the Moon" sei seit jeher (wahrscheinlich wegen der klingelnden Kassen zu Beginn) einer seiner Lieblingssongs gewesen. Ein vernichtenderes Kompliment hätte der VW-Manager dem libertären Sozialisten Waters kaum machen können...

Vielleicht fragen Sie sich, warum ich den Fall "Roger Waters" hier so ausführlich schildere. Nun, die Antwort ist einfach: Meines Ermessens zeigt dieses Beispiel wie kaum ein anderes Macht und Ohnmacht neulinker Musikproduktion. Sicherlich wird niemand bestreiten können, dass Waters Songs das Denken und Empfinden vieler Menschen beeinflusste. (In Südafrika z.B. wurde der Song "Another Brick in the Wall" zur offiziellen Hymne des landesweiten Schulboykotts, der sich gegen das damalige Apartheitsregime richtete.) Anderseits aber muss herausgestellt werden, dass auch Waters sich den ausgeklügelten Verwertungs- und Verdinglichungsmechanismen der Musikindustrie nicht entziehen konnte. Seine Songs wurden - solange sie sich verkaufen ließen - mit immensem Aufwand als Popprodukte vermarktet und auch als eben solche konsumiert. Nur die allerwenigsten Hörer verstanden, was Waters mit seinen Hörwerken eigentlich bezweckte. Die meisten genossen - völlig inhaltsfrei - die Attitüde seiner Kompositionen, solange das irgendwie modisch war, also den tiefenpolitischen Trends der Zeit entsprach. Als sich der Zeitgeist in den Achtzigern wandelte, tauschten sie - ohne mit der Wimper zu zucken - die düsteren Floyd-Alben gegen die poppig hochgestylten Plastikprodukte von DuranDuran oder Wham ein. Der einstige Megastar Roger Waters war plötzlich ein Mann von gestern. Mit dem Niedergang der Verkäufe sank sein Stern am Pophimmel. Denn im Musikbuiness zählt weder Qualität noch Anspruch, sondern allein der Verkauf. Wer im Kampf um die Konsumentennachfrage unterliegt, hat nichts mehr zu melden. Wer out ist, ist erledigt.

Aber kommen wir nun zur Ausgangsfrage zurück: Was können wir aus unserem Abriß der Musik der alten und neuen Linken für den Zusammenhang von Musik und Politik folgern?

Wie ich bereits gestern sagte, müssen wir davon ausgehen, dass Musik nur dann die Welt verändern kann, wenn sich die Welt anschickt, die Musik bzw. die sie produzierenden Musiker zu verändern. Will sagen: Eric Burdon, die Stones, Ton Steine Scherben und Pink Floyd, sie alle haben die Welt eine Zeit lang durchaus im neulinken Sinne verändert – und zwar, weil es ihnen gelang, den Geist ihrer Zeit in musikalische Formen zu fassen. Durch ihre Musik erreichte der Geist der Rebellion auch die Herzen jener Menschen, die in der tiefsten Provinz lebten - fernab von den politischen Auseinandersetzungen dieser Tage. So konnte sich auch der Seppl aus Niederbayern ein paar Wochen lang als Straßenkämpfer fühlen. Und vielleicht verhalf es ihm sogar dazu, einige der überkommenen Traditionen seiner Eltern leichter über Bord zu werfen. Allerdings: Das Motivierungspotential neulinker Musikproduktion war nur solange vorhanden, solange es vom Zeitgeist getragen wurde. Als sich die Zeiten änderten, änderte sich auch die Musik. Nur sehr wenige Musiker – wie Roger Waters - hielten an ihren Konzeptionen fest. Ihr aufrechter Gang wurde freilich gleich bestraft - mit sinkenden Verkaufszahlen und der herablassenden Ignoranz der marktfixierten Medien.

Aus dieser mehr oder weniger betrüblichen Erkenntnis können Kunstschaffende nun zwei unterschiedliche idealtypische Konsequenzen ziehen: Entweder sie verstehen sich als Dienstleistungsunternehmer und richten ihre Produkte radikal auf die herrschenden Marktinteressen aus. Oder aber sie entdecken ihr eigenes marktunabhängiges Profil, ein Profil, das sie konsequent weiter verfolgen - selbst wenn die Marktchancen ihrer Produktionen als eher gering erscheinen. Ich will nicht verhehlen, dass ich die zweite Option präferiere. Meines Erachtens muss Kunst auch den Mut haben, anzuecken, denn nur wer sich nicht scheut, anstößig zu sein, wird hin und wieder auch Anstöße geben können.

Friedrich Schiller hatte meines Ermessens also durchaus Recht, als er schrieb: "Der Künstler ist zwar Sohn seiner Zeit, aber schlimm für ihn, wenn er zugleich ihr Zögling oder gar ihr Günstling ist. Eine wohltätige Gottheit reiße den Säugling beizeiten von seiner Mutter Brust, nähre ihn mit der Milch eines besseren Alters..." Freilich: Der naive Schillersche Glauben an das "bessere Alter" ist uns Heutigen fremd. Dennoch: Ohne die Utopie eines "besseren Alters" (und handelte es sich auch nur um die bloße Negation des Bestehenden) kann auf lange Sicht keine Kunst existieren können.

Denn Kunst speist ihre Energie aus der normativen Kraft des Kontrafaktischen. Und das macht sie eigentlich erst spannend. Kunst - das wird leider allzu häufig übersehen – hat auch die Aufgabe, die stets notwendige Kritik an den real existierenden Verhältnissen in adäquate ästhetische Formen zu übersetzen. Diesem Auftrag dürfen sich nicht alle KünstlerInnen entziehen. Auch MusikerInnen haben hier ihren Beitrag zu leisten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.