Tango meets Transgender
Das 3. Internationale Queer Tango Festival lädt zum Spiel mit den Geschlechterrollen
aus: ak - analyse + kritik - Zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 476 / 19.09.2003

Erotik! Machismo! Aggression! Kaum ein Paartanz ist mit solch' heftigen, emotionalen Bildern verknüpft wie der Tango Argentino. Schweift die Assoziation ungezügelt, tauchen Bilder auf von rauchgeschwängerten, dämmrigen Spelunken, in denen knapp berockte Frauen und glattgegelte Männer lasziv umschlungen über die Tanzfläche gleiten. In scheinbar unberechenbarer Vielfalt umzirkeln, drängen, umgarnen sich die Körper, versunken im Vierachteltakt der Musik. Er gibt raumgreifend Richtung und Rhythmus vor, sie folgt ihm, glänzt hier und da mit einer kunstvollen Verzierung oder aber unterbricht den Fluss mit einer plötzlichen, verblüffenden Drehung, einem überraschenden Stopp. Der Tango Argentino als gleichermaßen empfundenes und inszeniertes Duell der Geschlechter changiert zwischen zärtlicher Verführung und dem kraftvollen Ausverhandeln von Dominanz und Unterordnung.

Die Legende berichtet von europäischen EinwanderInnen und kreolischen Landflüchtlingen, die im Argentinien des ausgehenden 19. Jahrhunderts in den Hafenvierteln und im arrabal, dem Stadtrand von Buenos Aires, lebten und im Tango ihre Ausdrucksmöglichkeit für ihre Heimatlosigkeit, ihre Sehnsucht und ihr Verlangen fanden. Die Geschichte erzählt von Bordellen, in denen sich Zuhälter, Freier und Prostituierte tanzend die Zeit vertrieben. In Lunfardo, einer Mischung aus Spanisch, Gaunerjargon und den verschiedenen Sprachen der MigrantInnen, beweinte der Tango wehmütig die Liebe, das verlorene Glück, besang Schmerz und Armut. Seitdem gilt der Tango als trauriger Gedanke, der getanzt werden kann. Als Protestlied verstand sich Tango trotz subtil eingewobener Sozialkritik nie und blieb wohl auch deshalb von den politischen Machthabern weitestgehend unbehelligt, bis auf ein kurzlebiges Verbot von Lunfardo-Ausdrücken in den vierziger Jahren und der Zensur einiger Tangotexte während der Militärdiktatur 1976 bis 1983.

Von jeher haftete dem argentinischen Tango der Geruch des Sexuellen und Randständigen, des Verruchten und Verrufenen an. In den wohlhabenden Quartieren von Buenos Aires als verderbt verschmäht, spülte die Musik der Gestrandeten und Vertriebenen mit dem Beginn des 20. Jahrhunderts hinüber auf den "alten" Kontinent. In den edlen Tanzhallen der europäischen Metropolen Paris, London und Berlin brach ein wahres Tangofieber aus, Orchester brillierten in den Konzertsälen der Großstädte, das Blasebalginstrument Bandoneon wurde zum Symbol der Tangomusik, der wohl berühmteste Tangosänger, Carlos Gardel, erhob sich zum Popstar zwischen Hollywood und Paris. 1920 versuchte der europäische Tanzlehrerverband, den intimen Tanz in das enge Korsett der Standardisierung zu pressen: Der europäische Tango entstand, ein verstümmeltes Produkt, das der als anrüchig geltenden Haken und Verzierungen (cortes y quebradas) beraubt war und entsprechend steif und einfallslos wirkte. Der ursprüngliche, argentinische Tango indes lebt, davon unangefochten, weiter - und mit ihm der Mythos von Macht und Melancholie. Die Einflüsse des Jazz oder die eigenwilligen Kompositionen von Astor Piazolla, dem Erfinder des Tango Nuevo, formten und verfeinerten den Tango; im Kern aber blieb die Wehmut, die Melodramatik und die Eindeutigkeit, mit der die Rollen im klassischen Tango Argentino festgeschrieben sind: Der Mann führt, die Frau folgt.

Umso bemerkenswerter ist die Euphorie, mit der Tanzbegeisterte vor allem in den europäischen Zentren der Emanzipationsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Tango Argentino nicht nur als Zeitvertreib, sondern als Lebensstil goutierten. Frauen und Männer aus dem bürgerlichen, großstädtischen Milieu begannen auf und neben dem Parkett gesellschaftliche Konventionen zu pflegen, die andernorts als längst überholt galten. Im Tango Argentino ließen sich traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeiten par excellence zelebrieren Wo sonst konnten der bewegte Mann und die moderne Frau Machismo und Hingabe so unsanktioniert ausleben? Mit dem Ende der Militärdiktatur kehrte der Tango Argentino in den Instrumentenkoffern der heimkehrenden Exilanten zurück nach Buenos Aires. Spätestens seitdem gilt die argentinische Hafenstadt den europäischen Tangueras und Tangueros als Wallfahrtsort, an dem Mythos und Vorbild des ursprünglichen Tangos zu finden sind.

Wo der leidenschaftliche Zweikampf von Mann und Frau zum Klischee gerinnt, wächst der Reiz, vermeintliche Eindeutigkeiten zu demontieren. So verwundert es nur auf den ersten Blick, dass seit Mitte der achtziger Jahre Lesben und Schwule, vor allem in Deutschland, den argentinischen Tango für sich entdecken, obwohl sich ihr individueller Lebensausdruck kaum mit dem im Tango überhöhten heterosexuellen Beziehungsmodell in Übereinstimmung bringen lässt. Das Manifest der heterosexuellen Norm gerät ins Wanken, wenn Frauen führen und Männer folgen - das gilt für jeden standardisierten Paartanz; die Kraft der Dekonstruktion wird jedoch im extrem bipolar konstruierten Tango besonders augenfällig. Tanzen Paare in gleichgeschlechtlicher Konstellation, kippt das vermeintlich natürliche Bild des traditionellen Geschlechterverhältnisses.

In Buenos Aires ist es an einigen Tango-Orten auch heute noch verboten, in gleichgeschlechtlicher Konstellation zu tanzen. Die traditionelle Geschichtsschreibung erwähnt zwar, dass sich Männer bereits in den Frühzeiten des Tango trafen, um gemeinsam die komplizierten Schrittfolgen einzuüben und dass auch Frauen öffentlich miteinander tanzten, eine homoerotische Konnotation wird dabei allerdings weitestgehend ausgeblendet bzw. negiert. Häufig wird in diesem Zusammenhang das Argument bemüht, der eklatante Frauenmangel in männerdominierten MigrantInnenkreisen sei Grund gewesen für gleichgeschlechtliche Tanzpaare. Auch heute noch ist es keine Selbstverständlichkeit für Queer Tangotanzende, in den Tanzsälen der europäischen Tangoszene, den Milongas, einen Platz zu finden und willkommen geheißen zu werden. Die Palette der Reaktionen auf gleichgeschlechtliche Paare reicht von Missbilligung und Ächtung bis hin zur Duldung oder Akzeptanz. Und auch wer sich hier zu Lande als (heterosexueller) Mann von einer Frau führen lässt, kann sich zumindest amüsierter, wenn nicht gar verächtlicher Blicke sicher sein.

Als dreitägige Heimat für alle anders, sprich queer Tanzenden, wollen deshalb die VeranstalterInnen Marga Nagel, Ute Walter und Felix Feyerabend ihr Queer Tango Festival verstanden wissen. Tangobegeisterte Experimentierfreudige können - gleich welcher Geschlechteridentität oder sexueller Präferenz - am ersten Oktoberwochenende in Hamburg nach Lust und Laune mit präzise gesetzten Schritten, Haken, Schlenkern, Stopps und Kicks an den Geschlechtergrenzen rütteln. Zum dritten Mal in Folge findet das internationale Festival statt, mit wachsendem Andrang. Offensichtlich, so berichtet das engagierte Dreierteam, entdecken auch immer mehr Hetero- und Bisexuelle den Reiz, Geschlecht und Begehren nicht als Eindeutigkeit zu erfahren, sondern im Rollentausch neue Dimensionen der eigenen Identität zu entdecken.

"Tango heißt eindeutiges Führen und klares Folgen, aber eben auch Dialog beider Rollen," betont Marga Nagel. Gemeinsam mit Ute Walter gilt sie als Geburtshelferin der lesbischen Tangoszene in Hamburg. Seit Jahren tanzt sie beide Rollen, im Gegensatz zu Ute Walter, die sich, "weil es besser zu mir passt", auf die führende Rolle festgelegt hat. "Tango bietet die Möglichkeit, die eigene Geschlechterrolle zu betonen oder aber zu verlassen und etwas Neues auszuprobieren, sich anders zu erleben", erklärt die routinierte Tangolehrerin Marga Nagel. Bei Bedarf wechselt sie die Rolle - und die Schuhe. "Um die Rolle empfinden zu können, ziehe ich das Passende an. Wenn ich auf Stöckeln führe, ist das ganz anderer Tango," sagt sie und meint damit: ein nicht so schöner. Führen ist nicht schlicht das Spiegelbild des Folgens, das Wechseln will gelernt sein. Rollen- und Machtspiele sind Thema in allen Beziehungen, davon sind die Queer-Tango-Expertinnen überzeugt. Aber weil Tanzen unvorbelasteter sei als manch' anderer Lebensbereich, ließe sich hier unproblematischer ausprobieren, wie es sich anfühlt, eine Rolle anzunehmen, ihr gewachsen zu sein, sie auszuleben - und sie eventuell wieder abzustreifen und zu wechseln.

Die queere Person, gleich welcher geschlechtlichen Identität und sexuellen Präferenz, die sich latent von der Umwelt in ihrer körperlichen und persönlichen Integrität in Frage gestellt sieht, kann sich beim Tangotanzen über die Grenzen der biologischen oder sozialen Geschlechterrollenzuschreibung hinwegsetzen. Queer Tango gerät so zum Ausdruck für die Abkehr von der vermeintlichen Heimat Körper und Identität, für die Suche nach neuen Formen. Vielleicht liegt hier der verbindende Faden zwischen dem Ursprung des Tango und seiner modifizierten Lesart: Einstmals rebellierten am Rio de la Plata sozial Deklassierte gegen gesellschaftliche Konventionen, indem sie mit sinnlicher Selbstsicherheit Tango tanzten und sich so, abseits von materiellem Besitz und sozialem Status, ihre Würde, ihren Stolz wahrten. Wo Migration und Heimatlosigkeit das Leben bestimmten, wurden der Körper, der Tanz, die Musik in all ihrer Unstetigkeit und Flüchtigkeit zur Bastion. Und heute? Die Einsicht, dass sich geschlechtliche Identitäten jeder Normierung und Eindeutigkeit verweigern, ist der erste Schritt in die Unsicherheit. Queer Tango bietet dabei einen geeigneten Ort, an dem das Grenzüberschreitende eine neue Heimat findet und von dem aus tradierte heterosexuelle (Körper-) Normen subversiv unterwandert werden können.

Tina Fritsche

Literaturhinweise:
Essays von Dr. Paula-Irene Villa: * Exotic gender (e)motion: Körper und Leib im Argentinischen Tango. In: Hahn/Meuser (Hg.): Körperrepräsentationen. Konstanz 2002; * Tanz die Leidenschaft! Argentinischer Tango zwischen Phantasma,
Anrufung und Herzklopfen. In: Berliner Debatte Initial, 13 (2002); * Mit dem Ernst des Körpers spielen. Körper, Diskurse und Emotionen im argentinischen Tango. In: Alkemeyer/Boschert/Schmidt/Gebauer (Hg): Aufs Spiel gesetzte Körper. Konstanz 2003;
Horacio Salas: Der Tango. Stuttgart 2001. Abrozosbooks/Schmetterling Verlag;
Magali Saikin: Tango y generi (auf spanisch/deutsch); erscheint im Oktober 2003 bei abrazosbooks/Schmetterling Verlag, Stuttgart
du - Die Zeitschrift der Kultur, Heft Nr. 11/1997 (Tango - Eine Art Sehnsucht)
Queer Tango Festival Hamburg, 3.-5. Oktober 2003; Im Baladin, Stresemannstr. 347; mit Workshops, Showtanz und Tangoball. Außerdem Diskussionsveranstaltung zum Thema "Tango - Tango-Natur? Provokante soziologische, historische und praktische Überlegungen zum Zusammenhang von Tango, Geschlecht und Identität" mit Dr. Paula Irene Villa und Dr. Magali Saikin; Mehr Infos unter: www.queer-tango.de

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